11.07.2025
Wer ist mein Nächster? – oder: Wie liest du?
Liebe Schwestern und Brüder,
„was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Wer ist mein Nächster?“ Dieses Evangelium, das eigentlich Frohe Botschaft ist, ist wunderbar geeignet, einem ein schlechtes Gewissen einzureden: Da soll gespendet werden für die Not der Menschen weltweit, da sie ja gleichsam unter die Räuber gefallen sind; da werden moderne Bilder gemalt, die den Priester und den Levit des Evangeliums als Bischof und Theologen zeigen; da werden Angriffe gegenüber engagierten Christen gefahren, die sich wohl in der örtlichen Gemeinde einsetzen, die Not des Obdachlosen oder Armen aber ignorieren, Arme, die es auch bei und unter uns gibt, wenn auch nicht so offen wie in einer Großstadt wie Wiesbaden oder Frankfurt. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen auch eine solche Erblast bezüglich des Evangeliums – so lassen Sie und diese ganz bewusst beiseite schieben, um uns dem zu nähern, was an Froher Botschaft dahinter steckt.
Jesus antwortet auf die Frage des Gesetzeslehrers, was er denn tun solle, mit einer Gegenfrage, oder genauer: mit zwei Gegenfragen. Einmal fragt er ihn, was zu dieser Frage denn im Gesetz selbst steht und zweitens – und das ist entscheidend – „wie“ er es denn liest, nicht „was“, wie es ungenau übersetzt ist. Auf die Frage nach dem, was im Gesetz steht, antwortet der Gesetzeslehrer sehr präzise, nämlich mit dem Hauptgebot der Gottesliebe, das ergänzt wird durch das der Nächstenliebe. Dies ist eine sachlich richtige Aussage und dem ersten Augenschein nach sehr klar – also: handle danach!
Aber: So klar ist es doch nicht! Denn von der Beantwortung der zweiten Frage Jesu, „wie liest du?“, hängt es ab, wie dieses Gebot verstanden wird.
Indem der Gesetzeslehrer Jesus die weitergehende Frage stellt – um sich zu rechtfertigen, wie es heißt – wer denn sein Nächster sei, beantwortet er indirekt die zweite Frage Jesu, wie er die Überlieferung des Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe versteht, nämlich: Er begreift nicht, wie und warum die zusammengehören, er begreift nicht, was schon Mose den Israeliten sagte – wir hörten es in der ersten Lesung – „das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.
Jesus versucht dem Gesetzeslehrer nun deutlich zu machen, wer mein Nächster ist, wer mein Nächster sein kann: derjenige, der dich jetzt braucht. Was aber braucht es, damit ich selbst sehe, dass hier mein Einsatz gefordert ist? Hierzu schweigt das Evangelium, es schweigt zu den Gründen, warum Priester und Levit vorbeigehen, es schweigt auch darüber, warum der Samariter Mitleid empfand.
Wie liest du die Gebote Gottes? Diese Frage Jesu ist für jeden von uns ganz entscheidend, denn die Beantwortung macht deutlich, wer Gott für den einzelnen wirklich ist. „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben“ – das kann ich doch nur, wenn ich Ihn als jemanden erfahren habe, der sich meiner liebevoll annimmt, der sich um mich sorgt, dem nicht egal ist, was mir widerfährt, der gerade dann, wenn andere mich links liegen lassen, meine Wunden versorgt wie der Samariter. Wenn ich das erfahre – die Bibel nennt genau das „Leben“ – , dann ist die Antwort, meine Antwort auf ein solches Handeln Gottes wirklich schon in meinem Mund, in meinem Herzen. Dann kann ich gar nicht anders als ausdrücken, wie sehr ich dafür dankbar bin – und dann möchte ich „ewiges Leben“, möchte immer in dieser Gemeinschaft, der Freundschaft mit dem Herrn leben.
Und das zeigt sich dann auch im Handeln gegenüber meinen Mitmenschen. Wenn ich selbst erfahren habe, wie sich ein anderer meiner Not erbarmt, dann bin ich selbst sehr viel aufmerksamer für die Nöte anderer. Ich kann mir das nicht vornehmen, wie ein Gesetz, eine Vorschrift, dass ich heute meinem Nächsten helfen will. Nein, es ist ja die ganz natürliche Handlung des Menschen, dem selbst Gutes widerfahren ist.
Viele beklagen heute, dass die Welt immer unmenschlicher wird. Hier liegt ein weites Feld für uns Christen – nicht, dass wir mehr klagen oder tun sollten. Nein, wir sollten vielmehr zulassen, dass Gott wieder mehr an uns handelt, so sehr, dass andere – neugierig geworden – nach unserer Kraftquelle fragen, die uns so leben lässt, wie Gott sich das für uns wünscht: Im Vertrauen auf Seine Gemeinschaft, im Wunsch nach „ewigem Leben“.
Amen.
Fürbitten
Allmächtiger Gott, Dich und den Nächsten lieben – wenn wir auf unser Herz hören, finden wir dieses Gebot darin. Wir bitten Dich:
- Schenke uns die befreiende Erfahrung, dass Du jedem von uns gerade da nahe sein möchtest, wo wir selbst wund und schutzlos sind.
(Wir bitten Dich, erhöre uns) - Vergib uns, wenn wir immer wieder an unserem Nächsten schuldig werden und schenke uns den Mut, in der Gegenwart Deine Nähe und Deinen Anruf zu entdecken.
- Wir bitten Dich für die Krisen- und Konfliktgebiete unserer Welt, dass der Friede in die Herzen der Menschen einziehen kann
- Schenke den Menschen, die in diesen Wochen Erholung suchen, die Erfahrung Deiner befreienden Gegenwart.
- Nimm unsere Verstorbenen in Dein Reich auf und tröste die trauernden Angehörigen.
Dein Sohn zeigt uns, wie sehr Du Dich um uns sorgst, der mit Dir und dem Heiligen Geist lebt und uns liebt in alle Ewigkeit.
Amen.