Visionen - oder: Wozu sind wir Kirche?
Liebe Schwestern und Brüder,
je mehr ich mich mit diesem Text befasse, umso mehr begeistert er mich: die Vision des Jesaja, von der wir in der 1. Lesung hörten. Versuchen wir, uns in die damalige Situation hineinzuversetzen: Das Volk Israel ist vernichtend geschlagen und außer Bauern und einfachen Handwerkern nach Babylon deportiert. Zwangsvertreibung. Was in Israel noch übrig ist, gerade in Jerusalem, war nicht mehr viel und wurde von anderen Stämmen übernommen und bewohnt. Was bleibt: Leben in der Fremde. Und dann geschieht, was in solchen Fälle immer geschieht: Aus Fremden werden Assimilierte und bald Einheimische. Wäre da nicht die Religion, die die Juden dauerhaft von anderen unterscheidet. Wer daran festhält, bleibt Fremder – und klagt: „An den Strömen von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten“ (Ps 137). Schlimm zu wissen, dass man selbst ja auch Schuld trägt an dem „Warum“, an der Misere! In dieser Situation der Hoffungs- und Perspektivlosigkeit kommt das Prophetenwort des Jesaja: Ein „Knecht Gottes“ wird kommen, von Gott lange schon auserwählt, der das Volk nicht nur seelisch und moralisch wieder aufrichten wird, sondern darüber hinaus zurück, heim führt, nach Israel! Wer konnte damals ahnen, dass die Zeit der Verbannung, der Verschleppung nur vorübergehend, also ein Exil war?
Was mich dabei aber so begeistert: Da wird nicht nur Hoffnung auf Rückkehr geweckt. Nein, darüber hinaus, weit darüber hinaus wird hier eine unglaubliche Vision entworfen: „Es ist zu wenig“, lässt Gott durch den Propheten sagen, dass der „Knecht Gottes“ das Volk Israel heimführt. Hören wir es noch einmal: „Ich mache dich – gemeint ist der „Knecht“ und gleichzeitig auch das Volk Israel – zum Licht der Nationen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht“ (Jes 49,6). Unglaublich! Das kann man sich doch nicht ausdenken, das muss einem doch zugesagt werden! Nicht nur Hoffnung für das eigene Volk, die eigene Gruppe – nein, weit darüber hinaus, für alle! Du kehrst heim und wirst für alle ein Hoffnungszeichen und Sehnsuchtsort sein! Was für eine Vision! Ich kann mir gut vorstellen, welche Kraft das freisetzte, welche Eigendynamik da entfaltet wurde.
- Was ich mich frage – und diese Frage möchte ich weitergeben: Welches Hoffungswort, welche Vision gibt uns als Kirche heute Mut und Zuversicht? Beschränken wir uns dabei einmal auf unser Land. Es sieht desolat aus, wir haben uns an die schlechte Presse gewöhnt – die ja oft nur wiedergibt, was wirklich schlecht läuft – an die hohen Austrittszahlen, unseren Bedeutungsverlust. Oft habe ich auch in unserer Gemeinde den Eindruck, dass krampfhaft versucht wird, an einem letzen Rückzugsort die „Schotten dicht“ zu machen und dass dabei keiner sehen will, dass da das Wasser auch schon kniehoch steht. Das produziert Unlust, Wut, Enttäuschung, Trotz. Wo ist unsere Vision? Es geht nicht darum, dass wir hier und da gute Aktionen durchführen und Neuaufbrüche wagen. Es geht um das Große, das Ganze: ER ist das Licht der Welt, das Heil für alle. Wenn das so ist, werden wir genau dazu gebraucht!
ER, das „Lamm Gottes, wie Ihn Johannes bezeichnet, der Sohn Gottes – wenn wir das wirklich glauben, geht es da doch nicht um Gottesdienstzeiten, Pfarrfeste, Choralgesang, Sitzungen und Protokolle. ER will gerade in dunkler Zeit wieder heller strahlen, Hoffnung schenken; bei Ihm ist die Quelle der Lebensfreude, ER ist der Grund unverfälschten Lebens.
Das ist ER – und dem dient Kirche, wenn sie Seine Kirche sein will! Und davon werden dann unsere Gottesdienstzeiten, Pfarrfeste, Choralgesänge, Sitzungen und Protokolle Zeugnis geben.
Wir können lange über das „Warum“ und das „Wieso“ unserer Kirchenkrise sprechen und streiten. Wir sollten aufhören, uns deswegen zu zerfleischen. Denn es geht nicht um das „Warum?“. Es geht um das „Wozu?“ Dass wir endlich wieder Seine Kirche sind. Besser als vorher. Das ist allen Einsatz und ja, auch eine Kirchenkrise wert!
Die Vision wird uns beinahe in jedem Gottesdienst durch Sein Wort neu zugesagt – wir müssen es halt hören und beginnen, daran zu glauben. Vor 2500 Jahren bewirkte das schon einmal in Babylon eine unglaubliche Dynamik.
Amen.
Fürbitten
Unser Herr Jesus Christus ist das Licht für alle Menschen. Ihn bitten wir:
- Wir bitten Dich für Deine Kirche, für alle Christen, dass wir neu bereit sind, Deine befreiende Botschaft den Menschen zu bezeugen.
(Du Sohn Gottes – wir bitten Dich, erhöre uns)
- Für die Kirche in Deutschland: dass sie neu nach ihrem Auftrag fragt und so Kraft für ihre Sendung erhält.
- Für unsere Gemeinde, dass wir neu auf Dein Wort hören, dass uns immer wieder sagt, wer wir für Dich sind und wer wir für die anderen sein können.
- Hilf den getrennten Christen, dass sie im Blick auf Deine Bedeutung für diese Welt neu zusammenfinden und Abgrenzungen überwinden.
- Für unsere Kranken und Sterbenden und für die, die ihnen beistehen: Lass sie in der Nähe und Zuwendung Deinen Trost und Deine Versöhnung erfahren.
- Für unsere Verstorbenen, dass Du sie von all dem befreist, was sie von Dir trennen könnte.
Du führst als das Lamm Gottes die verlorene Menschheit zum Vater zurück, der mit Dir und dem Heiligen Geist lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen.