"Visionen - oder: Gott wohnt unter uns"


Liebe Schwestern und Brüder,
„wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, meinte Helmut Schmidt einst in seiner trockenen Art. Und wer keine Visionen hat? „Der hat keine Zukunft!“, konterte vor Jahren Bischof Franz Kamphaus. Wonach strecken wir uns aus, was gibt unserem Leben Ziel und Richtung? Das ist für den Einzelnen so wichtig wie für eine Gruppe, eine Gemeinschaft – für die Gemeinschaft des Staates ebenso wie für die Gemeinschaft der Kirche.
- In der heutigen 2. Lesung hörten wir aus dem Ende des letzten Buches der Bibel, der Offenbarung des Johannes: Am Ende von allem wird sich nach viel Chaos und Angst alles fügen, ordnen. Einfach deswegen, weil dann offensichtlich wird, was vorher auch schon – verborgen – galt: Gott wirkt, ist anwesend, Er ist der Beweger, der geheime Motor, der letztlich alles in die Richtung der Erfüllung, der Erlösung bringt.
Am Ende wird sichtbar, was die ganze Zeit schon galt: Gott wird in unserer Mitte wohnen. Er tut’s jetzt schon, aber eben oft verborgen, so dass man manchmal den Eindruck hat: völlig versteckt! Aber Er ist da. Das ist der Grund. Und dieser Grund gibt Raum für Zukunft. Für Vision.
- Gott wohnt unter uns. Oft ist in unserem Leben davon nicht viel zu spüren. Der einzelne kann sich dann leicht verlieren, abdriften – wenn die Sehnsucht nach Gottes Nähe nicht gestillt wird, dann machen sich Süchte breit, in welcher Form auch immer. Da braucht es dann jemanden, der die Sicht nach vorne wieder frei macht, eine Perspektive eröffnet, eine Vision, die die Macht hat, verborgene Kräfte wieder zu mobilisieren.
Aber auch im Leben der Kirche ist von diesem Wohnen Gottes unter uns oft nicht viel zu spüren. Das ist wohl der entscheidende Grund, warum sich immer mehr Menschen enttäuscht von ihr abwenden. Und es gibt so wenige, die wirkliche Perspektiven eröffnen, einen Weg in die Zukunft frei schlagen. Als vor einigen Wochen Notre Dame in Paris brannte, konnte genau das wahrgenommen werden: Da brannte nicht einfach ein Baudenkmal; da brennt etwas nieder, was eigentlich unsere Mitte sein sollte, ein Kraftzentrum.
Gott wohnt unter uns! Wirklich? Sätze dieser Art locken kaum noch, weil es viel zu oft scheint, dass sie nicht ernst gemeint sind! Und deswegen kann daraus auch keine Kraft und Energie geschöpft werden, kein Weg in die Zukunft ahnbar werden. Aber, wie es im Buch der Sprichwörter heißt: „Ohne prophetische Offenbarung (Vision) verwildert das Volk“ (Spr 29,18). Ob es Verwilderung ist oder nicht vielmehr Ermüdung und Resignation – klar ist, dass etwas fehlt. Etwas ganz Entscheidendes. Mehr als nur Begeisterung – es fehlt die Idee davon, wie es denn weiter gehen könnte.
Jesus traut uns im Evangelium aber dennoch viel zu: Erinnert euch, sagt er dann, bzw.: wir werden erinnert werden, von Gottes Geist, der in uns wohnt – also: Gott wohnt unter uns und kann uns begeistern, die Begeisterung schenken, die nötig ist um voranzugehen. „Wo zwei oder drei zusammen sind …!“Sind wir in Gottes Geist zusammen, oder verbringen wir nur Zeit miteinander?
- Vielen ist gar nicht bewusst, dass sich die Gründerväter und Gründermütter Europas mit der Europaflagge an der Offenbarung des Johannes orientiert haben: 12 Sterne um das Haupt der Frau, die Maria symbolisiert (Offb 12,1). Sie liegt, so die Offenbarung, in Geburtswehen. Da kommt etwas hervor. Unter Schmerzen. Auch unter Verfolgung. Aber es geht ums Leben, etwas, das Zukunft hat. Von Gott her. Was für ein Anspruch!
Die Europawahl an diesem Sonntag ist so gesehen nicht nur für jeden Demokraten, sondern für jeden Christen eine Pflicht. Denn hinter Europa steckt nicht die Idee einer Zweckgemeinschaft. Sondern die Idee, was alles werden kann, wenn Gott in der Mitte wohnt. Wir sollten das nicht den Populisten von links oder rechts überlassen, zu bestimmen, was in der Mitte ist. Die haben kein Interesse daran, wie es aussehen kann, wenn Gottes Geist an der Zukunft baut. Denen geht es um ihren Kleingeist, um ihre Egoismen in einer Welt der Angst und Abgrenzung.
Manche mögen sich wundern, dass ich dieses Thema anschneide. Aber Christsein ist immer konkret. Christen sind im Jetzt geerdet und entwerfen im Vertrauen auf Gottes Gegenwart eine Bild für die Zukunft, eine Vision, die deutlich macht, wer die Mitte ist. Nur so gibt es Zukunft.
Amen.
Fürbitten
Unseren Herrn Jesus Christus, der Seine Kirche führt, wollen wir bitten:
- Für Deine Kirche und alle, die in ihr Verantwortung tragen: um das tiefe Vertrauen in Deine Gegenwart und Führung sowie den Mut zu ehrlichem Dialog.
(Christus, höre uns – Christus, erhöre uns)
- Für die Menschen, zur Wahl des Europäischen Parlamentes aufgerufen sind: Hilf ihnen, der Gründungsidee eines Lebens in Frieden, Einheit und Wohlfahrt einen Weg in die Zukunft zu bahnen.
- Für alle, die in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft verantwortlich tätig sind: Hilf ihnen, im Blick auf das Wohl der Menschen zu denken und zu handeln.
- Für alle, die in ihrem Leben nicht spüren, dass Du da bist uns Dich um sie sorgst: Lass sie auch durch unser Glaubenszeugnis neue Kraft und Zuversicht schöpfen.
- Wir bitten dich für unsere Verstorbenen: Lass sie in Deiner Gemeinschaft den Frieden finden, den wir alle einmal erhoffen.
Du sendest uns den Geist, in dem wir Zugang haben zum Vater, mit dem Du lebst und herrscht in alle Ewigkeit. Amen.
