"Utopie - oder: Den Traum leben"


Liebe Schwestern und Brüder,
für IHN ist kein Platz. Das hörten wir eben. Im Griechischen, der Sprache, in der das Evangelium aufgeschrieben wurde, heißt das ou topos, Utopie, Nicht-Ort oder „Nirgendland“. Wir brauchen uns gar nicht vorzustellen, wie das wäre, wenn Gott kommt und ER keinen Ort findet, an dem ER ankommen könnte. Das ist geschehen – und es geschieht immer wieder.
Andererseits: Stellen wir uns vor, es würde heißen, da und dorthin musst du gehen und dann findest du Gott, da wohnt ER, da ist der besondere Ort, das „Heilige Land“. Das wäre dich auch eigenartig: Gott nur an bestimmten Orten, womöglich auch noch mit Sprechstunde…
Nein. Heute Nacht feiern wir, überall auf der Welt, egal wo: ER ist da! Hier! Hier ist Sein Platz – und da auch…
Aber: Ist nicht genau das utopisch?! Gott ist da. Das sagt sich so leicht. Aber können wir es auch erfahren, spüren, wahrnehmen? Es sieht an vielen Orten nun wirklich nicht danach aus! Können wir da die Nagelprobe machen?
Zunächst einmal: Das sagt sich nicht so leicht, dass Gott da ist. Wer es einfach so dahin sagt, weiß nicht, wovon er spricht. Andererseits: Wer es erfährt, der sagt es leicht: Gott ist da!
- Das Evangelium erzählt uns, wer die ersten waren, denen erzählt wurde, dass Gott da ist. Es waren Hirten. Raue Gesellen. Die machen nicht viele Worte und sind auf der Hut. Sie wissen, welche Gefahren drohen, wenn sie nicht da sind. Sie nun hören die Botschaft, von einem Engel, ja einem ganzen Engelheer: große Freude, Retter, Kind in einer Krippe. Das Evangelium erzählt nicht nur vom Wunder der Gottgeburt als Mensch. Auch vom Wunder der Engelserscheinung. Und genauso und besonders von dem Wunder, dass Hirten eine Vision haben – und sich darauf einlassen! Was muss geschehen, das Menschen, die mit beiden Füßen auf der Erde stehen, eine solche Botschaft glauben, die erst einmal utopisch klingt? Es muss etwas in ihnen zum Klingen gebracht haben. Anders ist das nicht zu erklären. Da muss es ein Traumland in ihnen gegeben haben, dass sie nie ganz vergessen haben. Und die Tür dahin öffnet der Engel, die Botschaft – und sie machen sich auf nach Betlehem. Wie viele Menschen werden das Gotteskind nie zu Gesicht bekommen, weil sie ihre Träume verloren haben, bevor sie Betlehem erreichen?!
Kein Traumland, keine Utopie – der Platz hat jetzt einen Namen: Jesus, Emmanuel, Gott mit uns. Hier. Überall. Die Hirten gehen hin und entdecken, dass es genau so ist, wie es ihnen gesagt worden war. Genau so. Und es ist kein Traum!
- Wie sieht es aus mit unseren wirklichen Träumen? Dem Traum nicht von einem „Nirgendland“, sondern einer „Anders-Welt“? Weihnachten sagt uns, dass ich eben nicht erst irgendwohin gehen muss, um diesen Traum verwirklicht zu finden. Es ist hier. ER ist hier!
Meine Träume zu leben: Hängen sie nicht auch ein wenig damit zusammen, was ich mir selbst zutraue an dem Ort, dem konkreten, an den ER mich gestellt hat? Sind meine Träume nicht letztlich doch auch ein Echo auf die Botschaft der Engel, tief in mir vergraben, weiter gegeben von Generation zu Generation? Wenn Gott Mensch wird, das Wort Fleisch wird, ist dann nicht doch alles möglich? Ist nicht mir selbst dann viel mehr möglich, weil Gott auch durch mich an die Orte kommen will, an denen ich bin?
So wollte Papst Johannes XXIII. nur wenige Monate nach seiner Wahl zum Papst 1958 das nahe dem Vatikan gelegene Gefängnis besuchen: An Weihnachten! Das geht nicht! Das gab es noch nie! Da geht ein Papst nicht hin. Das ist kein Ort für ihn. Es war aber sein Traum. Und so ging er. Großer Bahnhof, Reden, Begeisterung, Jubel. Dann, gegen Ende des Besuches, fragte er den Direktor, ob er denn wirklich alle Gefangenen gesehen habe. Nein, das hätte er nicht. Die ganz schweren Fälle, die Schwerstverbrecher und Mörder seien in einem eigenen Flügel untergebracht und es sei zu gefährlich, dort einen Besuch zu machen. Papst Johannes ließ sich nicht beirren, es hat eben auch Vorteile, als Papst einen Wunsch zu äußern! Und so wurde der Trakt geöffnet, Johannes trat ein. Wenn vorher lauter Jubel zu hören war, so an diesem Ort nur Stille. Und in diese Stille hinein rief er: Brüder, fratelli, ich bin es, sono io, euer Bruder Johannes, vostro fratello Giovanni. Die Gefangengen standen an ihren Gittertüren und nicht wenige von ihnen weinten.
Wer hätte das gedacht, dass die Menschlichkeit selbst im Gefängnis einen Platz hat. Dort, wo Gott nicht ins Nirgendland abgeschoben wird, sondern ein Traum von einer anderen, einer menschlicheren Welt gelebt wird, geschieht es immer wieder: Ehre Gott in der Höhe und Frieden auf Erden. Amen.
Fürbitten
Unseren Herrn Jesus Christus, das Licht der Welt, der in unsere Zeit eingetreten ist, um uns Seine Gegenwart zu schenken, bitten wir:
- Für alle Christen, dass wir Dein Licht in unserer Welt verbreiten können, und so denen neue Hoffnung schenken, deren Leben von Finsternis geprägt ist.
(Christus, höre uns - oder: gesungener Ruf)
- Du wurdest in Einfachheit und Armut geboren. Wir bitten darum, dass gerade die Armen auch durch uns wieder Deine Nähe und Begleitung erfahren und Dir so neu vertrauen können.
- Für Deine ganze Kirche, unseren Papst Franziskus und alle Hirten, dass sie in Wachsamkeit gegenüber den Zeichen der Zeit Deine Frohe Botschaft der Barmherzigkeit glaubwürdig vorleben und verkünden.
- Menschen missbrauchen Deinen Namen und bringen Hass und Unheil in die Welt: Lass alle Christen daran mitwirken, Deine wahre Macht in Wort und Tat zu bezeugen und so die Herzen der Menschen zu verwandeln.
- Für alle, die keinen Frieden mit sich und der Welt finden; für die, die heute in besonderer Weise ihre Dunkelheiten und Einsamkeit spüren; für alle, die unter Unfrieden und Krieg leben und leiden müssen.
- Wir bitten Dich für alle Menschen, denen wir uns heute auf besondere Weise verbunden fühlen und vertrauen Dir unsere Verstorbenen an. Kurze Stille
In der Freude über Deine Nähe loben und preisen wir Dich mit dem Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
