Die Prozessionsmadonna
Prozessionsmadonna - zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts
Unter der Gruppe der sieben Figuren in Martinsthal und Niederwalluf ist diese Holzfigur im schlechtesten Zustand. Ihr fehlen nicht nur beide Arme sondern sie zeigt auch an etlichen Stellen Farbabplatzungen. Beim Anheben der Figur am 29. Juli 2015 lag auf dem Boden sehr viel Sägemehl, so dass die Sicherung dieser Figur einen sehr hohen Stellenwert hat. Zunächst müsste eine Eliminierung der Schädlinge angestrebt werden, wenn man überhaupt noch eine Chance zur Rettung der Figur haben möchte.
Bei dieser weiblichen Figur fällt die detaillierte Bearbeitung des Kopf- und Halsbereichs auf, während der untere Teil der Figur eher unregelmäßig und plump bearbeitet ist. Meist ist das ein Indiz dafür, dass die Figur früher ein Kleid trug.[1] Eine bekleidete Madonna ist nichts Ungewöhnliches und gehört im 17. und 18. Jahrhundert zur normalen religiösen Praxis. Es waren entweder besondere Gnadenbilder (z.B. im Rheingau die Pietà in Marienthal oder am Mittelrhein die Pietà von Bornhofen), Prozessionsfiguren oder aber auch Altarfiguren bekleidet, wie für die Kirche in Rauenthal bezeugt ist.[2] Diese "Mode" kam aus Südeuropa und verbreitete sich durch die Krippenkunst und dem geistlichen Theater seit Ende des 16. Jahrhunderts verstärkt in Deutschland. Allerdings kennt die mittelalterliche religiöse Praxis bereits bekleidete Bilder, die in den Mysterienspielen in Gebrauch waren.[3] Die große Anzahl solcher Bildwerke in Spanien und in dessen Kolonialgebieten (Lateinamerika, Philippinen) legen heute noch Zeugnis dafür ab, dass diese Mode in Spanien vorherrschend war. In den ehemaligen spanischen Niederlanden (Belgien und Südniederlande) trifft man heute viele bekleidete Madonnen an. In der flämischen Stadt Antwerpen steht in nahezu jeder Kirche ein bekleidetes Muttergottesbild, so in der Antwerpener Karmeliterkirche oder in St. Willibrordus in Berchem. Oft heißt es in zeitgenössischen Quellen, dass ein Bild auf spanische Arth bekleidet war.
Bedauerlicherweise hat man zahlreiche Gnadenbilder in Deutschland im Zuge der Aufklärung entkleidet. Im Gebiet der Diözese Limburg sind nur noch zwei Muttergottesbilder bekleidet zu denen regelmäßig eine Wallfahrt stattfindet: Die Herzenbergmadonna und die Muttergottes der Hoheholzkapelle in Hadamar. Die Pietà von Marienthal ist nur partiell mit einem Schleier bekleidet. Viele Prozessionsfiguren sind durch die Wallfahrtsverbote und Eindämmung der durchaus ausgiebigen Prozessionen vernichtet worden.[4] Eine Karfreitagsprozession wie man sie heute in Lohr am Main oder Heiligenstadt vorfindet war im 17. und 18. Jahrhundert die Regel. Mancherorts haben sich Prozessionsfiguren erhalten, indem man sie in einen anderen liturgischen Kontext eingebunden hat.
Eine sehr ähnliche Figur befindet sich in Zeilsheim, heute in der katholischen Kirche St. Bartholomäus, ehemals in der Michaelskapelle. Es handelt sich um die sogenannte Pestmadonna, die aufgrund eines Gelöbnisses vor Errettung vor der Pest vom Pfarrer Heinrich Odenthal 1668 gestiftet worden ist.[5] Sie wurde vor einigen Jahren aus Sicherheitsgründen in die Kirche übertragen, während die Kapelle eine Kopie erhielt. Leider hat man dem Original die ursprünglichen Kleider weggenommen. Betrachten wir das Gesicht, so fällt auf, dass die Niederwallufer Figur fast identische Gesichtszüge hat. Leider ist mit dem Niederwallufer Exemplar aufgrund des Zustands ein adäquater Vergleich kaum möglich. Die Figur stammt aus dem Kölner Raum. Da Studien über Prozessionsfiguren am Mittelrhein gänzlich fehlen, gestaltet sich die Einordnung ziemlich schwierig. Als Datierung käme für die Madonna in Niederwalluf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in Betracht. Damit ist die Figur die zweitälteste in unserer Gruppe. Prozessionsfiguren sind ziemlich selten, da mit der Unterdrückung des Prozessionswesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts und insbesondere auch im 20. Jahrhundert die meisten Figuren zerstört wurden oder in Privatbesitz gegeben wurden. Es existieren noch bekleidete Heiligenfiguren, die heute in Glasschreinen zu sehen sind in unmittelbarer Nachbarschaft in der Basilika St. Ägidius in Mittelheim (leider nicht öffentlich sichtbar), in St. Michael in Ingelheim (von Martin Biterich von mir zugeschrieben), in Elsheim, St. Walburga (ebenso aus der Biterich-Werkstatt).
Alexander Wißmann M.A.,
10. November 2015
Projekt Erfassung und Inventarisierung des kirchlichen Kunstgutes im Pastoralen Raum Eltville, Oestrich-Winkel, Wallufthal.
[1] Siehe Madonna. Das Bild der Muttergottes (Ausstellung im Diözesanmuseum Freising 10. Mai bis 14. September 2003), Lindenberg im Allgäu 2003, S. 221.
[2] H. Raymund Peetz hat machen lassen die Bruderschafts Fahn, wie auch ein Antependium vor dem hohen Altar, so rod geblümbt sampt ein Tuch ahn die Cantzel sowie auch den Rock ahn das Maria Bild auf dem Maria altare von gemaltem zeugs. PfA Rauenthal: Bruderschaftsbuch, IX Vereine, K. 94.
[3] Der Titel von Veit und Lenhart führt zahlreiche religiöse Praktiken aus dem ehemaligen Mainzer Erzstift auf. Der Leser wird erstaunt und wohl auch betrübt sein, wie viele religiöse Bräuche und Praktiken in gerade mal zwei Jahrhunderten verloren gegangen sind. Vgl. Ludwig Andreas Veit, Ludwig Lenhart: Kirche und Volksfrömmigkeit im Zeitalter des Barock, Freiburg 1956, S. 77ff.
[4] Vgl. a.a.O., S. 90.
[5] [http://www.st-bartho.de/pfarreigeschichte_bartho-1870.html; 10. November 2015] Hier ist auch eine Fotografie vorhanden, die die Pestmadonna in ihrem vollen Ornat zeigt.