Berühre die Wunden – oder: Ihm nahe sein


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Liebe Schwestern und Brüder,
„streck seine Hand aus und lege sie in meine Seite“ – wir sind es gewohnt, dieses Evangelium als Aufforderung zu verstehen, zu glauben, auch wenn wir nicht sehen. Das ist aber nur eine erste Sichtweise. In der Tradition gibt es andere, tiefere:
- „Thomas, berühre meine Wunden!“ Der Freund, der Rabbi, der Messias, der Befreier – von Zauberhand einfach in ein neues Leben starten? Das kann nicht sein! Das kann kein Messias sein! Was ist mit den Wunden? Dann wäre ER doch nur ein Zauberer, aber kein Mitleidender. Den aber brauchen wir! ER trägt sie, der Gottessohn trägt Tod bringende Wunden und lebt! Wenn das so ist, so sein sollte – dann: mein Herr und mein Gott!
Als ich das erste Mal in Kalkutta war, beeindruckte mich das Zeugnis von Mutter Teresa: In einem verdurstenden Bettler auf der Straße erkannte sie den leidenden Christus. „Mich dürstet“, rief er. Das rief auch Christus. Also: wenn ich einen solchen Menschen berühre, dann berühre ich Christus. Christus trägt Wunden! Und ihr aufmerksamer Blick erkannte Ihn: In den Sterbenden, Leidenden, Ausgesetzten, den im Müll ausgesetzten Neugeborenen. Täglich begegnete sie Ihm: In der Gestalt des Brotes bei der Morgenmesse – und in der Gestalt von Fleisch und Blut gerade derjenigen, die Wunden tragen. Das war ihre große Erkenntnis, die doch uralt ist. Im Sterbehaus neben dem Kali-Tempel kann man es besonders erfahren: Die Schwestern behandeln dort keine Patienten, sie berühren Jesus!
- Vor etwas mehr als 10 Jahren durfte ich jemandem begegnen, der mich sehr verändert hat. Es war eine Zeit der Frustration über die deutsche Kirche, ständige Systemfragen, dem Streit um Gottesdienstzeiten und Höflichkeitsbesuchen bei Gruppen und Kreisen mit Kaffee und Kuchen: Wozu ist Kirche da, Glaube, Sakramente, Priester?
Ich begegnete einer Frau, die mir die Augen öffnete für einen Wirklichkeit, die vor mir, vor uns liegt: berühre die Wunden! Es war Mutter Elvira, die Gründerin der Gemeinschaft Cenacolo. Als Köchin in ihren Kloster, Rädchen im Getriebe dessen, was immer so war und bleiben soll, nahm sie Not wahr: Die verwahrlosten Drogensüchtigen von Turin. Ich erinnere mich gut an diese Zeit der Endsiebziger und der beginnenden Achtziger, als meine Frankfurter Schule direkt gegenüber der von uns Frankfurtern so genannten „Haschwiese“ lag. Heerscharen junger Junkies. Pass auf! Nicht anfassen! Kirchliche Gemeinden sollten Jugendliche davor bewahren – und auf keinen Fall anfassen!
Als ich den jungen Suchtkranken bei Cenacolo erstmals begegnete, spürte ich etwas, dass ich nicht benennen konnte. Eine tiefe Freude und: eine Sinnhaftigkeit. Dafür bin ich Christ! Mutter Elvira sagte immer wieder, dass ihr Umgang mit den Suchtkranken ihren eigenen Gauben belebt, vertieft hätte. Das war es. Das spürte ich auch: die körperlichen und tiefen seelischen Wunden, die ich dort sah, waren für mich eine Begegnung mit Jesus! Mit solchen Wunden stehen Menschen auf zu neuem Leben! Ich muss dazu sagen: Mein Glaube blieb bisher davon verschont, angesichts des Leid in der Welt an Gott zu verzweifeln. Vielmehr kenne ich die Frage: Oje, wie bekommst du das wieder hin? Wie kann da noch Gutes erstehen, gar Sinn? Aber bis heute traute und traue ich es Ihm zu!
- „Berühre meine Wunden“ – ich habe mich damals das erste Mal bewusst dem Leiden gestellt, der Verzweiflung junger Menschen, dem gescheiterten Leben. Und wie Papst Franziskus in einem Jugendgefängnis einmal sagte, dass es nicht sein Verdienst sei, nicht im Gefängnis gelandet zu sein, so wurde auch mir klar: dass ich glimpflich durch meine Jugend kam, war nicht meine Leistung! Es sind der Mut und das Vertrauen anderer gewesen, die mir sagten, zeigten: Da gibt es jemanden, auf den du dich immer verlassen kannst, gerade dann, wenn du dich verlassen fühlst!
- Berührt meine Wunden – Jesus trägt weiterhin die Wunden, in jedem Leidenden. Ihm begegnen wir dort, wir dürfen nicht kapitulieren und meinen, es sei alles sinnlos. Bei den Leidenden von Cenacolo habe ich gelernt, sehr persönlich von meinem Glauben zu sprechen. Und ich durfte erleben, dass dieser Glaube Wunden heilen lässt!
Mutter Teresa, Mutter Elvira, viele – auch unter uns – die den Leidenden begegnen bei den „Tischen“, im Kirchenladen, bei Krankenbesuchen: sie geben Zeugnis dass wir alle von Seiner Liebe getragen sind. Unser eigener Glaube, das sehen wir am Zustand unserer deutschen Kirche, braucht diese Erfahrung, dass Jesus lebt, hier unter uns. Berührt die Wunden – das ist der Weg. Und sprecht von IHM, auf dass Wunden heilen können.
Amen.
Fürbitten
Herr Jesus Christus, Du zeigst Dich den Jüngern als Auferstandener mit Deinen Wunden. Wir bitten Dich:
- Schenke uns Christen neu die Bereitschaft, im Alltag von Dir und unserer Erfahrung mit Dir zu sprechen.
(Christus, höre uns – Christus, erhöre uns)
- Schenke und als Christen in unseren Gemeinden den Mut, gerade denen Aufmerksamkeit zu schenken, die Wunden tragen: durch Krankheit, Sucht, Scheitern, Einsamkeit und Not.
- Stärke alle, die sich darum mühen, das durch die Pandemie verursachte Leid zu lindern: In der Medizin und Pflege, in Wirtschaft und Politik.
- Wir bitten Dich für alle Christen weltweit, die wegen ihres Glaubens an Dich Benachteiligung, Verfolgung, Leiden und sogar den Tod erleiden müssen.
- Führe unsere Verstorbenen in das ewige Leben bei Dir.
Wie Thomas bekennen wir Dich als unseren Herrn und Gott, der in der Einheit mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebt und herrscht in alle Ewigkeit. Amen.
