Oestrich in der Zeit des 30-jährigen Krieges
Karl-Heinz Eser beleuchtete in einem hochinteressanten Vortrag den Wiederaufbau der Weinbaugemeinde nach der Brandschatzung und Pest im 17. Jahrhundert
„Bet‘, Kinder, bet‘, morgen kommt der Schwed’, morgen kommt der Ochsenstern, der wird die Kinder beten lehrn. Bet‘, Kinder, bet‘!“, so lautete ein Kinderlied aus dem 30jährigen Krieg, das schon um 1650 in gedruckter Fassung existierte. Im Rahmen eines weiteren hochinteressanten, ausführlichen Vortrags zur Historie Oestrichs beleuchtete der aus Oestrich stammende Historiker Karl-Heinz Eser diesmal die Zeiten des 30jährigen Krieges. „Wir haben heute Gelegenheit, uns mit der Oestricher und Rheingauer Lebenswelt in einer hochkritischen Phase vor
400 Jahren oder etwa 13 Generationen und ihrer Bewältigung vertraut zu machen.
Das sollte uns auch angesichts von Zukunftsängsten ermuntern, positiv nach vorne zu schauen. Die „Besinnung“ auf das Eigene, das Geborgenheit gibt, auf unsere Sprache, Kultur, Wirtschaftsleben, Arbeit, Heimat, ist eine wichtige Voraussetzung für unseren Fortbestand. Die Oestricher Lebenswelt in einer hochkritischen Phase vor etwa 400 Jahren und Anstrengungen zu ihrer Bewältigung sind Themen dieses Vortrags“, hatte auch Josef Bibo vom Ortsausschuss Stank Martin der Pfarrgemeinde Sankt Peter und Paul in seiner Begrüßung vermerkt. Der Ortsausschuss hatte den Vortragsabend, der überaus gut besucht war, organisiert.
„Die hintergründig machtbasierten, religiösen Streitpunkte, die den 30jährigen Krieg ausgelöst haben, traten in seinem Verlauf in den Hintergrund. Am Anfang standen sich der dezentralistisch-protestantische Feudaladel samt Handelsbürgertum im Norden und der zentralistisch-katholische sowie kaisertreue Süden rivalisierend gegenüber. Später wurde der Religionskrieg immer mehr zu einem religionsfernen europaweiten Kampf um die Macht. Das katholische Frankreich des Kardinals Richelieu beispielsweise kämpfte schließlich an der Seite der protestantischen Schweden. Bevorzugter Kriegsschauplatz waren die deutschen Lande, deren Bevölkerung sich dabei von 17 auf 11 Millionen Menschen verringerte!“, erläuterte Eser eingehend und zitierte den österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Karl Kraus, der 1909 schrieb „Das Übel (zum Beispiel ein Krieg) gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht!“ .
Karl-Heinz Eser ging auf den Prager Fenstersturz von 1618 ein: „Vertreter der protestantischen Stände stürzten am 23. Mai 1618 die königlichen Statthalter Jaroslaw Borsita Graf von Martinitz, Willhelm Slavata von Chlum und Koschumberg sowie den Kanzleisekretär Philipp Fabricius wegen Einschränkung der Religionsfreiheit aus einem Fenster der Prager Burg etwa 17 Meter tief in den Burggraben.
Dieser Gewaltakt war eine Kriegserklärung an den Kaiser und Auslöser des 30-jährigen Kriegs, nicht dessen Ursache. Durch die Reformation hatte sich die Kirche in Katholiken und Protestanten gespalten. Daraufhin gab es vermehrt Konflikte zwischen katholischen und protestantischen Herrschern in Europa. Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ war keine Ausnahme. 1617 wurde der Habsburger Ferdinand II. König von Böhmen und ab 1619 bis 1637 Deutscher Kaiser. Er hatte kein Interesse, die Versprechen seines Vorgängers Rudolph II. zu uneingeschränkter Glaubensfreiheit einzuhalten, war ein überzeugter Vertreter der Gegenreformation und betrieb die Re-Katholisierung. Dazu unterdrückte er gezielt die Protestanten in Böhmen. Das Wetterleuchten der sich abzeichnenden Auseinandersetzung erreichte auch den Rheingau und führte 1619 aus Gründen der Vorsicht zu einer Inspektion des schützenden Gebücks in Form einer „Bereitung“.“, so Eser. Er zitierte August von Cohausen, der sie 1874 schilderte: „Es war anno 1619 am 25., 26. und 27. Februar, gewissermaßen zur Bereitschaft auf den 30jährigen Krieg, der eben begonnen hatte, dass der Vitzthum der gestrenge, wohledle und feste Wolf Heinrich von Breydenbach in Begleitung seines Sohnes Johann Antoni, des Philipp Eberhard von Stockheim, des Gewaltboten Johann Meissener, des Landhauptmanns Rutger Schmidt und des Amtknechtes Nicolai Itzstein, welcher das Protokoll führte, die Rheingauische Landwehrung, alle Gebücke und Bollwerke, Häge und Schläge umritten und mit sonderbarem Fleiss beaugenscheinigten, und deren Defecte und Mängel nach Vermögen notirten und selbige fürbass verbessern zu lassen sich entschlossen. Damals fand der Vitzthum das Gebück von der Klingenpforte an bis gegen Tiefenthal als so mangelhaft, als es an keinem End befunden, noch viel ärger und übeler versehen, als das Erbacher wendig Hausen, dass dies Gebück keinem Gebück zu vergleichen, sondern an vielen Orten nur einer Hecke, gleich man vor Aecker und Wiesen zu haben pflegt, zu vergleichen, und wo man auf Mittel vordacht sein muss, wie dem zu helfen. Es muss zwar vor allen Dingen der inwendige Graben erhöht und aufgeworfen werden, auch so viel möglich das Gebück durchflochten alda Eltvill vorgiebt, dass es die Rauenthaler und Neudorfer gleich an dem Flecken von Walluf aus bis nach Neudorf zu thun allein schuldig, welches sie nicht geständig.“ Dieses Protokoll beschreibe genau die Schwachstellen des Gebücks im Walluftal, die die Schweden zwölf Jahre später dann auch taktisch nutzten, erklärte Eser. „Die natürliche Schutzanlage des Gebücks war rund 35 Meter breit und, mit Unterbrechung durch natürliche Hindernisse, etwa 36 km lang. Das bloße Abschneiden einer Spießgerte wurde vom General-Haingericht mit 10 Goldgulden, heute knapp 1.000 Euro, bestraft. Und die Jahre der Erpressung und des Elends begannen für den Rheingau erst, als das Gebück durchbrochen war!“.
Eser berichte mit Cohausens Worten, dass der Schwedengeneral Gustav Adolph im September 1631 bei Breitenfeld nahe Leipzig gesiegt hatte, im November in Frankfurt eingerückt war, Höchst genommen hatte und nun Mainz gewinnen wollte und zu dem Ende im Rheingau über den Rhein gehen. Deshalb rückte Herzog Bernhard von Weimar vor Walluf und forderte zur Übergabe auf. Man schlug sie ab, und setzte sich mit den kaiserlichen Soldaten, den Spaniern, zur Gegenwehr. Der Herzog griff nun den „Backofen“ an, fand aber so tapferen Widerstand, dass er binnen drei Tagen nichts ausrichtete. Durch fortgesetzte Wachsamkeit hätten die Rheingauer ihre Niederlage noch vermeiden können, allein sie fielen in Übermut und wurden sorglos. Besonders war das der Fall bei den Besatzungen der entfernten Bollwerke, die noch keinen Feind vor sich hatten. Der Herzog Bernhard nutzte dies: in der Stille der Nacht kommandierte er einige Truppen gegen die Obern Bollwerke ab, und während er vor Walluf den Angriff fortsetzte, überfiel er Anfang Dezember 1631 die berauschten Wächter bei Neudorf/Martinsthal, machte sie nieder, überrumpelte das Dorf und dann Eltville. Von da kamen nun die Schweden der Besatzung zu Walluf in den Rücken. Diese verließen ihren Backofen und wurden, Rheingauer und Spanier, sämtlich niedergehauen. Die Schweden aber ergossen sich über den Rheingau und brandschatzten ihn, um so zu festzustellen, vor welchem Elend das Land durch sein Gebück bisher bewahrt worden war“. Die stärkste der drei Wallufer Festungen wurde der „Backofen“ genannt wegen der halbrunden Form. Er befand sich von 1495 bis 1808 in Niederwalluf an der Ecke Hauptstraße/Neustraße.
Karl-Heinz Eser zitierte den früheren Volksschullehrer in Oestrich Karl Rolf Seufert (1923–1992), der 1987 den Rheingauer Roman aus dem Dreißigjährigen Krieg „Sie kamen von Mitternacht“ schrieb: „Die Landwehr wird aufgeboten, und so reißt es den jungen Karl Scharhag in den Strudel des Krieges: Er beobachtet als Kundschafter die anrückenden Schweden, er ist unter den Verteidigern, als die Schweden das „Backofen" genannte Bollwerk am Rheinufer Rheinufer sturmreif schießen und durch Verrat beim ‚Gebück‘ die Front durchbrechen!“.
Eser berichtete weiter: „Kloster Eberbach stand für kurze Zeit ab 1632 zur persönlichen Verfügung des Schwedischen Reichskanzlers Graf Axel Oxenstierna (1583–1654). Der „Schwedenbau“, die Bibliothek, erinnert noch heute daran. Nach der Niederwerfung des Rheingauer Aufstandes 1525 wurde den „Bauern“ aufgegeben, sich ihrem Stande gemäß zu kleiden und sich namentlich der großen breiten Birette und der zerschnittenen, kriegerischen Landsknechtskleidung zu enthalten. Dabei hatte der Name „Bauer“ im Rheingau von jeher einen eher abwertenden Klang, selbst heute noch hört der Winzer sich nicht gern Bauer nennen. Während dem Mainzer Klerus und der Bürgerschaft umgehend eine Kontribution von je 80.000 Reichthalern auferlegt wurde, waren es für den Rheingau „nur“ 46.000 Reichthaler, etwa 3,64 Millionen Euro. Die Mainzer hatten diese Summe nicht zur Hand, sodass die Stadt geplündert und verwüstet wurde. Vor solchem Schicksal blieb der Rheingau bewahrt, ihn rettete das Gold, das auf seinen Bergen gedieh und in seinen Kellern lagerte. Frankfurter Kaufleute streckten den Betrag als Kredit vor und nahmen dafür 1.643 Fuder Wein, etwa 1.314 Stück á 1.200 Liter in Zahlung. Im „Einkauf“ wurden für 1 Liter Wein somit rund 2,31 Euro gezahlt, der später nach Köln oder Amsterdam deutlich teurer verkauft wurde. Die Kontributionen summierten sich im Rheingau und in Oestrich über vier Jahre zu einem horrenden Betrag. Die Rheingauer Gemeinden wurden von 1631 bis 1634 zusammen zur Zahlung von demnach etwa 9 Millionen Euro veranlasst. Oestrich trug dazu 810.000 Euro bei. Im Vergleich zu anderen Landstrichen kam der Rheingau als wirtschaftlich starke Region jedoch glimpflich davon: „Dass die Bewohner des Landes in diesen ersten Zeiten der Schwedenherrschaft unter Rohheiten und Ausschreitungen der einquartierten Truppen unmittelbar zu leiden gehabt und an dem Ihrigen Schaden erfahren haben, ist bis jetzt aus gleichzeitigen Berichten nicht bekannt geworden. So führten die Rheingauer als schwedische Untertanen, zumindest bis September 1634, kein viel schlimmeres Kriegsdasein als früher unter der angestammten mainzischen Hoheit. Sie hatten mit Bedrückungen, Entbehrungen und wirtschaftlichen Nöten zu kämpfen, aber die unmenschliche Grausamkeit dieses Krieges blieb ihnen im Allgemeinen immer noch fern.“ „Die Bevölkerung (in Mittelheim) konnte zum großen Teil ihrer geregelten Arbeit nachgehen und die Winzer konnten ihre Weinberge bebauen. Während des ganzen Krieges war die Gemeindeverwaltung intakt und arbeitete nach altem Herkommen weiter. Rückschlüsse auf den gesamten Rheingau können natürlich so ohne weiteres nicht gezogen werden. Was aber die Verlustziffern betrifft (Hausverluste: 1623–1642 max. 17%), so sind sie für den ganzen Rheingau beinahe die gleichen. Dabei fällt noch stark in die Waagschale der Brand in Oestrich“, zitierte Eser die Historiker Richter und Rosensprung.
Der Referent bemerkte auch, dass der eigentliche Krieg für den Rheingau nicht 30, sondern „nur“ 17 Jahre dauerte: „Ein zeitgenössischer Bericht über die Zeit der schwedischen und nachfolgend hessischen Besatzung beschreibt die Verluste der Eberbacher Abtei in lateinischer Sprache: Die landgräflichen Hessen, unsere Nachbarn, folgten den Schweden mit drei- oder viertausend Soldaten nach und schoren das Land so sehr, dass nur noch wenig Wolle übrig blieb. Sie brachten 100 Fuder mit bestem Wein und zwei bemerkenswerte Kandelaber in ihre Stadt Kassel, die vor dem großen Altar unserer Kirche aufgestellt waren und deren Wert sich auf 1.000 Gulden belief, zusammen mit vielen anderen Gemälden, die bis heute mit den Kandelabern in der Residenz von Kassel zu sehen sind.“.
Der Kriegsverlauf in den benachbarten Gebieten der Pfalz und des Rheingaus sei grundverschieden gewesen, den Raum um Kaiserslautern habe der Krieg zur Wüste gemacht, in der nur noch an wenigen Plätzen schwaches menschliches Leben pulste. Manches Dorf sei nach einem halben Jahrhundert und noch länger immer noch tot und verödet gewesen. Gefürchtet waren auch die Grausamkeiten kroatischer Reiter, die auch „Teufels neuer Adel“ genannt wurden oder der berüchtigte „Schwedentrunk“: „Sie haben allerlei faules Wasser von Kot und Mist aus den Schweinetrögen, oder was sie am unreinsten und nächsten haben bekommen können, ganze Eimer voll zusammen gesammelt und den Leuten zum Maul, Nase und Ohren eingeschüttet“. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sei in zeitgenössischen Darstellungen festgehalten und habe rasche Verbreitung gefunden.
Der große Brand von 1635
„Oestrich wurde vermutlich im April/Mai 1635 von einem schwedischen Brandkommando wegen einer ausstehenden Entschädigung „an allen vier Ecken“ angezündet“, erinnerte der Referent auch an die ganz große Katastrophe, die Oestrich im 30jährigen Krieg durchmachen musste: „Wie aus einem Ratsprotokoll von 1685 hervorgeht, hat Oestrich „vor dem 30-jährigen Kriege anno 1618 gehabt 219 Haus. Anno 1635 seindt nach beschehenem Brandt und Schwedischeswese noch übrich gebliebe 85 Haus, seindt also verbrändt und in die Aesche gelegt wordte 134 Haus ohne Ställ und Scheuer. Anno 1685 befinde sich wieder 144 Haus, nach beschehenem Brandt seindt bis dato wieder auferbaut wordte 59 Haus“. So wurden knapp zwei Drittel des Hausbestandes, also etwa 62 Prozent vor allem südlich der Hauptstraße einschließlich Kirche und Rathaus ein Raub der Flammen, weitergetragen durch vermuteten Südwind. Ein Verlust an Menschen wird nicht berichtet“. Eser zitierte Rosensprung: „Zur Zeit des Brandes muss Südwind geherrscht haben, der die Feuerstraßen vom Rhein her nach Norden trieb. Hingegen konnten die sicher auch am Nordrand entfachten Brände nicht weitergreifen. Dass die Hauptstraße dem Feuer Einhalt gebot, ist erklärlich. Ebensowenig konnten die Flammen den Marktplatz überspringen. Erhalten blieben die Gasthäuser „Schwan“ und „Krone“, wohl auch die „Burg“. Das Rathaus und der Zehnthof auf dem heutigen Pfarrhausareal wurden Opfer der Flammen. Die Martinskirche brannte bis auf die Seitenmauern ab. Die 17 Zentner „geschmolzene Glockenspeis“ wurde 1647 für 187 Reichsthaler, rund 15.000 Euro zur Begleichung französischer Kontributionen verkauft. Pfarrer Johann Bernardus Stark (1648–1673) konnte die Kirche erst 1658 wieder „ins Truckene“ bringen, das heißt mit einem Dach und einer schmucklosen ebenen Decke versehen lassen. Den Kran hat laut Landschreibereirechnung „der Feind mit sich hinweggenommen“. 1686 ließ Johann Friedrich von Eltz, unter anderem Domherr zu Mainz und Domprobst zu Trier, an die Stelle der von den Schweden zerstörten Kapelle des „Armen Nikolaus“ Richtung Mittelheim eine Statue mit Inschrift aufstellen.
Die Pestepidemie von 1666
Die nächste, nicht minder schwere Katastrophe habe ließ nicht lange auf sich warten lassen, erinnerte Karl-Heinz Eser und berichtete von der bakteriell verursachten Beulenpest, die, wie erst seit 1894 bekannt sei, durch Ratten- beziehungsweise Menschenflöhe übertragen wird: „Nach einer Inkubationszeit von 2 bis 5 Tagen stellten sich zunächst Unwohlsein, Fieber, Schüttelfrost und starke Kopfschmerzen ein. Der Tod erfolgte oft schon am ersten oder zweiten Tag. Vom 20. Juni bis 22. Dezember 1666, nur gut 30 Jahre nach der schwedischen Brandschatzung, wütete der „Schwarze Tod“ in Oestrich und traf die Bevölkerung in der Phase des mühevollen Wiederaufbaus nach dem langen Krieg. Nach Roth brachte die Seuche etwa 250, laut Kirchenbuch 275 Menschen, in Oestrich den Tod – fast „zwei Dritttheile“ aller Bewohner. Heute weiß man, dass der eigentliche Anteil der Pesttoten etwa ein Viertel der damaligen Oestricher Bevölkerung ausmachte. Betroffen waren meistens Kinder und mehr Männer als Frauen, darunter auch sieben Gottesthaler Nonnen und zwei Laienschwestern. 1687 seien von Historikern in Oestrich 157 Familien dokumentiert, etwa 785 Personen.
Zum Wiederaufbau holte man sich dann auch Hilfe und förderte die „qualifizierte Migration aus welschen Landen“: „Der Landesherr war nach Kriegsverwüstungen und Bevölkerungsrückgang in eigenem Interesse gezwungen, seinen Untertanen beizustehen und einen neuen Aufschwung zu wagen. So warb der damalige Erzbischof und Kurfürst Johann Philipp von Schönborn (1647–1673) unter anderem neue Bewohner mit Hilfe von Steuerfreiheit auf mehrere Jahre sowie materieller wie ideeller Unterstützung, wie die Bereitstellung von Holz und Baumaterialien und auch der Erlaubnis, Zünfte zu errichten. Das war die „Green Card Plus“ für Fachkräfte damaliger Zeit!“. Und so sei vieles in Oestrich nach 1635 für relativ wenig Geld günstig zu erwerben gewesen, auch 1637 der Gottesthaler Hof: „Der Besitz nach dem Kaufvertrag vom 3. Juni 1637 zwischen Johann Itzstein, Bürger zu Oestrich, mit seiner ehelichen Hausfrau Martha und den beiden Abteien „Stabell vndt Malmandey“, auch „Malmundür“ genannt, in Person des Bevollmächtigten Prior Frater Franciscus Laurentij (1584–1650) umfasste eine bürgerliche Behausung in der Römerstraße 7, Hof und zugehörige Güter an Weingärten, Äcker und Wiesen. Insgesamt 29 Morgen, also rund 72.500 Quadratmeter wechselten, die Gunst der Stunde nutzend, für insgesamt 1.500 Reichsthaler, etwa 120.000 Euro den Besitzer!“.
Auch der „Stabloer Hof“ entwickelte sich zu einem bedeutsamen Wirtschaftszentrum in Oestrich, erläuterte Eser. „In der historischen Entwicklung von Oestrich kommt der ehemaligen Großen Hofreite von Kloster Gottesthal, vermutlich im 13. Jahrhundert errichtet und seit 1637 „Stabeler Hof“ genannt, eine wichtige Bedeutung zu. Dazu müssten die Grundstücke 2, 6 und 7 an der Bornstraße, entlang der Westseite der Römerstraße die Grundstücke 7, 9, 11 und 13 und weiter an der heutigen Rheingaustraße Nr. 56, 58, 60 gehört haben. Die Anwesen Nr. 60, 58, 56 seien bis Anfang der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeschossige Ökonomiegebäude mit tiefer Unterkellerung gewesen. Das Grundstück Nr. 56 und Nr. 58, bekannt auch als Merscheid und bis 1972 ehemaliges Oestricher Postamt, war wahrscheinlich eine Kellerei und Küferei und hatte sowohl rechts wie links Toreinfahrten, die linksseitige von Nr. 58 wurde erst nach Aufstockung 1899 beseitigt. Die Gebäude Nr. 56 und Nr. 60 erhielten etwa zur gleichen Zeit ein Obergeschoss. Die Anwesen Römerstraße 9 sollen die Schmiede, Nr. 11 die Häfnerei, als Töpferei, eines der oberen zur Bornstraße hin gelegenen der Böttcherei und Wagnerei vorbehalten gewesen sein. Johann Klein, Ahnherr des Mitbegründers der Druckmaschinenfabrik Johannisberg, war um 1660 Schmied auf dem Stabloer Hof, auch sein 1662 dort geborener Sohn Johann Jakob. Vermutet werde auch, dass vielleicht auch die Mühle am heutigen Friedensplatz auf der Pfingstbach, die frühere Bäckerei Fischbach, einst zum Stabloer Hof gehörte. Bedienstete und „Beisassen“ hätten wahrscheinlich teils die Häuser der östlichen Römerstraße bewohnt. Insgesamt bietet der Stabeler Hof das Bild eines lebendigen Teils des Oestricher Gemeinwesens. Er half nach dem Niedergang im 30jährigen Krieg und der Pest von 1666, in enger Abstimmung mit der Gemeinde gemeinsam wieder Zukunft zu entwickeln!“.
Wallonische Unternehmer in Oestrich
Der Vertrag von 1637 habe auch grenzüberschreitend personenintensive Beziehungen zwischen Oestrich und der Ost-Wallonie gestiftet: „Ihr Einfluss war nachhaltig und beträchtlich. Dafür steht die Geschichte zweier ehemaliger Bürger aus Malmédy und Umgebung, die die Wirtschafts- und damit auch Gesellschaftsentwicklung des Marktfleckens in ihrer Zeit nicht unwesentlich prägten. Diese Unternehmer sind Johann Hupert (alias Huperth, Huppert, Hüppert, Hubbert, Hubert, Hubbrichen, Hauprecht) van Bergh/vom Berg (1620–1667) und Gerbermeister Pierre (Piette)/Peter (später: van) Cunibert (1629–1681), Patrizier und 1670 Bourgemestre von Malmédy. Johann Hupert ließ sich als ehemaliger Verwalter des Eberbach’schen Besitzes in Geisenheim im Marktflecken nieder und erwirkte am 23. September 1651 bei Erzbischof Johann Philipp von Schönborn am 23. September 1651 eine Bierbrau- und Schankkonzession für den seit 1540 bezeugten Gasthof „Zur Krone“, der 1655 und im 19. Jahrhundert wiederholt umgestaltet wurde. Nach etwa gut 10 Jahren war Johann Hupert mit seinem praktischen wallonischen Wissen und seinem Vorwissen als Eberbach’scher Verwalter ein gemachter Mann in Oestrich. Die Schatzungsliste von 1662 weist ihn mit 1.418 Gulden, rund 75.000 Euro nach den „Herrn von Stabel“ mit 1.681 Gulden, rund 89.000 Euro als zweitvermögendste Person im Marktflecken aus. Hupert legte ebenfalls ab 1651 für die Gerber und Wollenweber aus seiner Heimat eine Loh- und eine Walkmühle an, begründete eine Ziegelei, führte ab 1654 die im Rheingau wenig bekannte Herstellung von Backsteinen ein und siedelte so 12 bis 15 Familien aus Malmédy und Umgebung an. Er leistete einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung Oestrichs. Beerdigt wurde der tüchtige Geschäftsmann nur 47jährig am 25. März 1667, erstochen von seinem durch die Pest des Jahres 1666 wahnsinnig gewordenen Diener. Es folgte sein einziger Sohn Laurentius, der nach wenigen Jahren ebenfalls verstarb, wahrscheinlich zwischen 1676 und 1679. Dessen Witwe trug im Rahmen ihrer zweiten Ehe jedoch wesentlich zum Ruin ihrer Oestricher Geschäfte bei. Laurentius stiftete noch kurz vor seinem Tod zusammen mit seiner Frau den Muttergottes- oder Marien-Altar in der Oestricher Pfarrkirche, den er aus schwarzem und rotem Marmor fertigen ließ!“.
Bemerkenswert sei auch das Leben von Dominus Pierre/Peter (van/von) Cunibert (1629–1681) gewesen: „Cunibert war Gerbermeister, 1670 „Bourgmestre“ von Malmédy und Patrizier aus einer alteingesessenen und begüterten Familie. Alfred Herber meint, dass er die Verhältnisse in dem verwüsteten Rheingau erst gründlich studierte, ehe er sich wahrscheinlich um 1670 für seine Niederlassung Oestrich als beste Gelegenheit erkor. Die erfolgreichen Unternehmungen seines Landmanns Johann Hupert könnten seinen Entschluss beeinflusst haben. In der renovierten Schatzungsliste für Oestrich von 1662 ist Peter Cunibert nicht aufgeführt und ebenso wenig im „Verzeichnis der Bedienten und Unterthanen im Rheingauw“ (Oestrich) im Jahre 1665. Pierres vermutlich älterer Sohn war Quirin (Piette) Cunibert (1655–1718). Er residierte von 1694 bis 1696 als Bürgermeister von Malmédy und heiratete 1676 Anne Jacquemotte (1655–1700) in Oestrich: Quirin muss, seiner Amtsübernahme nach zu urteilen, wieder in seine Heimat zurückgekehrt sein. Doch zuvor kaufte er 1685 einen „wüsten Platz am Rhein“ und errichtete dort eine große Gerberei, zu der er und sein Bruder Pierre Henri nach und nach den gesamten umliegenden Grundbesitz und die Häuser, zuletzt auch Haus und Weingut der Patres Dominikani in Frankfurt, welches angrenzte, durch Kauf erwerben konnte. So gehörte fast der ganze untere Bachlauf des Pfingstbaches zu ihrem Eigentum. Der vermutlich jüngere Sohn Pierres war Pierre Henri (1668–1731). Er begründete die Oestricher Linie der Cuniberts, war Oberschultheiß etwa von 1719 bis 1731 und Anfang der 1700er Jahre auch Kranmeister. Pierre Henri ehelichte Anne Marie Itzstein (1680–1728) aus Winkel, Tochter des Kriminalrichters Friedrich von Itzstein. Pierre Henri Cunibert hatte mindestens fünf Kinder, geboren zwischen 1697 und 1720. Zwei Söhne wurden prominent, ein Sohn sein Nachfolger als Kranmeister. Der andere, Heinrich Peter (1710–1761), war ab 1729 Kantor und Kanoniker am hohen Dom in Frankfurt und ab 1734 Dekan von St. Bartholomäus in Frankfurt. Und sein Sohn Augustin Franz (1720–1767) war Kurmainzer Staats- und Geheimrat und wurde als österreichischer „Reichshofrath“ 1761 in den Adelstand erhoben. In der Oestricher Pfarrkirche ist ihm eine Gedenktafel gewidmet: „August Franziskus und seine Ehefrau Maria Anastasia Cunibert, gest. 1797“. Dessen Sohn, Freiherr Dr. jur. Augustin Franz Gottfried Ignaz von Cunibert (1761–1843), wurde 1816 vom bayerischen König als Baron in den Freiherrenstand erhoben. Er vermählt sich in Wien mit Anna Maria Barbara von Dobelhof-Dier (1769–1848) und verfasste vor 1816 die Cunibert’sche Familienchronik als Grundlage seiner Nobilitierung. Mit wiederum dessen Sohn, Carl Jakob Augustin Franz (1812–1883), königlich-bayerischer Kammerjunker, Kreis- und Hofrat in Aschaffenburg, erlosch der Oestricher Zweig derer von Cunibert!“.
Alle Bemühungen um den Wiederaufbau durch die einheimische Bevölkerung und die Entwicklungsimpulse durch wallonische Unternehmer (Stabloer Hof, Johann Hupert, Pierre Cunibert) hätten nur gelingen können, weil der Landesherr und die Gemeinde Oestrich entsprechende Voraussetzungen bieten konnten, hielt Karl-Heinz Eser fest.
Rudolf Rosensprung habe dazu drei fundamentale Bedingungen genannt, denen der Referent vollumfänglich zustimmte: „Der Rheingau hatte sich von Anfang an klar und eindeutig auf die Seite des Landesherrn, des Kurfürsten und Erzbischofs von Mainz gestellt, der bis 1631 immer schützend seine Hand über das Land halten konnte. Der eigentliche Krieg dauerte also für den Rheingau nicht 30, sondern nur 17 Jahre. Außerdem war der Wein, der den natürlichen Reichtum des Landes bildete, und jedes Jahr nachwuchs, sein bestes Zahlungsmittel. Entscheidend aber dürfte gewesen sein, dass hier das Gemeinwesen schon seit alters her hochentwickelt war. Ein gesunder Bürgersinn Iieß die Menschen in der Not zusammenstehen und auch so furchtbare Jahre wie die Zeit des Dreißigjährigen Krieges durchstehen!“.
Nicht unerwähnt blieben auch weitere Akteure wie Pfarrer Johann Bernhard Starck, Amtsführung 1648 bis 1673, der auch Kämmerer des „Rheingauer Landkapitels“ war. Er stammte aus Geiß bei Fulda, heute Nidda, und war an führender Stelle mitverantwortlich für den Wiederaufbau der Kirche: „Es übersteigt alle Begriffe, mit welchem Eifer und Opfermut die armen Bewohner Oestrichs an die Wiederaufbauarbeiten ihres Gotteshauses herantraten und dieselben so förderten, dass Ende Mai 1658 die Kirche ‚ins Truckene’ gebracht war.“ Pfarrer Starck sei auch derjenige gewesen, der ausführliche Aufzeichnungen über die Zahl der Oestricher Pest-Sterbefälle im Totenregister machte. Pfarrer Dr. Heinrich Rody (1841–1905) konnte erst 1894 das Werk von Pfarrer Johann Bernhard Starck nach fast 240 Jahren vollenden: Er ließ die St. Martinskirche nach historischen Anhaltspunkten erneuern!“.
Mit einem gedichteten Schlusswort endete die Zeitreise von Karl-Heinz Eser, die die begeisterten Zuhörer tief in die Historie ihres Heimatortes geführt hatte: „Rund 400 Jahre ist es her, auf Oestrich lastete das Schicksal schwer. Der Krieg erreichte unsren Ort und riss der Heimstätten viele fort. Allzu sicher schien das Gebück, dahinter wähnte man das Glück. Selbstüberschätzung machte sich breit und sorgte schnell für großes Leid. Das Gold der Reben verhinderte den Blutzoll und machte wilde Schweden friedvoll. Solang die erpressten Gelder flossen, gab es kaum gefährliche Possen. Nur einmal zeigte sich ihr wahres Gesicht, sie hielten über Oestrich Gericht. Der Tribut erreichte eben Geisenheim, als der Große Brand erschütterte das traute Heim. Danach war Vieles wüst und trist, aber nur geraume Frist. Ärmel hoch und angepackt, war es auch noch so unwirtlich und vertrackt.
Hilfe nahte bald von fern. Kloster Stavelot (Stablo) engagierte sich gern, natürlich nicht ohne Aussicht auf Gewinn, sonst machen Investitionen keinen Sinn. Kaum war das Ärgste überstanden, kam tödlich gekrochen aus westlichen Landen, die Pest bedrohlich den Rhein herauf und räumte unter den Menschen auf. Zwei Drittel, sagt man, kamen zu Schanden. Fast jede Familie beklagte einen nahen Verwandten. Oestrich war dermaßen ohne Rat, dass der Mainzer Kurfürst schritt zur Tat. Aus „welschen“ Landen holte er Wallonen, ohne sich dabei zu schonen. Sie siedelten mutig in unserem Terrain und ließen sich auf den Rheingau ein. Das war ein Segen ohnegleichen und ließ den Wiederaufbau alsbald erreichen. Doch nur ein starkes Bürgersinnen sorgte gemeinsam für gutes Gelingen. Gibt es eine Moral aus dieser Geschichte? Vermutlich Ja! Denn Vieles geht zunichte, wenn man hört auf ideologisch Fitte, die politisieren ohne Gründlichkeit und Maß und Mitte. Zu beklagen auch heute, Tag für Tag, eine Entwicklung, die ins Abseits führen mag! Erinnern wir uns lieber der tatkräftigen Ahnen, die zum Vertrauen auf das Eigene mahnen. Und lasst nicht vergessen immer wieder auf’s Neu. Das kleine Glück auf Erden heißt: „Weck, Worscht un Woi!“.
Sabine Fladung
Bildunterschrift