Der Prophet Melchisedech
Prophet Melchisedech - Johann Kaspar Hiernle (1710-1755)
At vero Melchisedech rex Salem proferens panem et vinum, erat enim sacerdos Dei altissimi, Gen. 14,18.
Melchisedech aber, der König von Salem, brachte Brot und Wein dar, denn er war ein Priester Gottes, des Allerhöchsten.[1]
Zu den elegantesten Figuren - trotz ihres sehr beschädigten Zustands - zählt in der Niederwallufer Gruppe die Darstellung eines biblischen Propheten, wahrscheinlich Melchisedech. Wie die Fotografie zeigt, ist die Figur sehr schadhaft. Mehrere Gliedmaßen sind abgefallen, ein Teil des Hermelinmantels abgebrochen. Die Spitze des Spielbeinfußes ist angefressen durch Schädlinge. Ebenso der Sockel.
Die Drehung des Körpers führt die Figur stilistisch vom eher erdgebundenen und massigen Mainzer Barock weg. Kennen wir das direkte Vergleichsbeispiel in der katholischen Kirche von Münster bei Dieburg, so ist der Urheber der Figur klar: Dieser biblische Prophet stammt aus der Hiernle-Werkstatt.
Keine andere Werkstatt konnte in Mainz derart bewegte Figuren herstellen und deshalb waren die Heiligenstatuen der Brüder Hiernle sehr begehrt. Die Söhne des Mainzer Hofbildhauer Franz Matthias Hiernle (1677-1732) übernahmen nach dem Tod des Vaters die bekannte Werkstatt. Während Johann Kaspar Hiernle (1710-1755) auf Wanderschaft ging, übernahm Sebastian (1705-1755) die väterliche Werkstatt. Wohin genau Johann Kaspar Hiernle zur Weiterbildung ging, ist bis heute nicht belegt. Dr. Baron Döry konstatierte erstmals, dass Johann Kaspar Hiernle nach Hadamar gegangen sein musste. Dort lernte er wahrscheinlich bei Martin Volk (1700-1756), was die bewegte Form und Schroffheit der Gewandfalten seiner Figuren erklärt.[2] Martin Volk ist ein Hauptmeister der Hadamarer Schule.[3]
Die Melchisedech-Figur in der katholischen Kirche von Münster stand ursprünglich in St. Stephan in Mainz und ist 1755 entstanden.[4] Johann Kaspar Hiernle ist für diese Figur als Urheber gesichert. Betrachten wir die Gesichter beider Figuren, so dürfte die Zuschreibung klar sein. Auch die Drehung des Körpers, die scharfgratigen Gewandfalten, die markanten Stiefel, sprechen für Johann Kaspar Hiernle. Insbesondere aber das Gesicht ist bei beiden Melchisedech identisch.
Leider sind die Attribute verloren gegangen, so dass man nicht genau sagen kann, ob die Figur wirklich Melchisedech darstellt. Aufgrund der sehr ähnlichen Körper- und Handhaltung kann man dennoch behaupten, dass er wahrscheinlich einen Weinkrug und einen Teller mit Brotlaibern getragen hat. Zudem sind auf dem Kopf des Propheten mehrere Zacken-Fragmente zu sehen, die wie beim Melchisedech in Münster auf dieselbe Kopfbedeckung schließen lassen. Da Melchisedech König von Salem war passt auch seine elegante Kleidung, wie z.B. der Hermelinmantel und die feinen Stiefel. Die Zacken könnten auch Ansätze von Hörnern sein, so dass eine Identifizierung mit Moses auch möglich wäre. Dennoch sprechen mehr Gründe für eine Identifizierung der Figur als König Melchisedech.
Johann Kaspar Hiernle und sein Bruder Sebastian sind beide 1755 ledig verstorben, d.h. sie hatten keine Nachfahren und damit auch niemanden, der ihre Werkstatt übernommen hätte. Sie wurden - wie zuvor ihr Vater - in St. Ignaz bestattet.[5] Fortan gehörten die Bildwerke der Bildhauerfamilie Hiernle, zumindest in Mainz, der Vergangenheit an. Der Landshuter Familienzweig - die Nachfahren des Onkels Sebastians und Johann Kaspars, Anton Hiernle (1676-1723) - ist noch bis 1770 in Erding nachweisbar. Mit dem Tod des Cousins Johann Michael Hiernle (um 1710-1770)[6] in Erding erlischt auch dort die bildhauerische Aktivität der Familie Hiernle.[7]
Die Schaffensperiode der Hiernle-Brüder umfasst die 1530er bis 1550er Jahre. Das ist ein sehr knapper Zeitraum. Umso wertvoller sind ihre Figuren, da sie recht selten sind.
Im Rheingau sind kaum Werke bekannt. Lediglich die Maria vom Siege in der katholischen Kirche von Assmannshausen konnte bisher als ein Werk Johann Kaspar Hiernles gesichert werden.[8] Sie ist die beste und wertvollste Arbeit der Hiernle-Brüder im Rheingau. Das Vorbild für die Marienfigur in Assmannshausen ist die Immaculata aus St. Stephan im Mainzer Landesmuseum. Die virtuose Gewandführung aus sich übereinander kreuzenden kraterartigen Faltenbahnen wird man bei anderen Mainzer Bildhauern vergebens suchen.
Ganz anders ist die Maria vom Siege in der katholischen Kirche St. Antonius in Pfungstadt. Diese hat Dr. Baron Döry überzeugend Johann Kaspars Bruder Sebastian Hiernle zugeschrieben.[9] Der krasse Unterschied zwischen den Handschriften beider Brüder wird beim direkten Vergleich offenbar. Beide waren - freilich jeder auf seine eigene Art und Weise - sehr talentiert. Die Expressivität der Hiernle-Figuren wurde in Mainz von keinem anderen ansässigen Bildhauer erreicht.
Es ist ein schreckliches Drama, dass gerade die Barockfiguren in Assmannshausen akut von Feuchtigkeit bedroht sind. Das betrifft neben der Maria vom Siege von Hiernle auch die Altäre, die Nothgottes-Figur, die der Verfasser Martin Biterich (1691-1759) zuschreibt, die Hl. Thekla von Ikonium (von den Kunstdenkmälern Rheingaukreis und auch von der Pfarrgemeinde fälschlich als Hl. Euphemia von Chalkedon gedeutet[10]), die der Verfasser dem Mainzer Hofbildhauer Burkhard Zamels (um 1690-1757) zuschreibt. Die Sicherung und Pflege der Figuren in Assmannshausen hat im gesamten Rheingau oberste Priorität neben den jüngsten Funden in Niederwalluf und Martinsthal.
Beim Verfassen dieses Aufsatzes hat der Autor erfahren, dass im Dezember 2014 die wohl gelungenste Immaculata-Figur von Johann Kaspar Hiernle, die sich zuletzt im Landesmuseum in Mainz befand, im Londoner Auktionshaus Sothebys versteigert worden ist.[11] Die Figur ist ein Hauptwerk des Mainzer Künstlers und stammt auch aus St. Stephan.[12] Dass die Immaculata aus unserer Region verkauft worden ist, kann nur als ein beklagenswerter Verlust bezeichnet werden. Einheimische Kulturgüter werden nach Gutdünken in andere Länder verkauft. Es werden keine nennenswerten Anstrengungen unternommen, den Ausverkauf unseres Kulturguts zu verhindern. Dieser Verkauf zeigt wieder allzu deutlich, dass die Bemühungen bekannter Kunsthistoriker wie Fritz Arens oder Ludwig Baron Döry leider nicht dazu beigetragen haben, in unserer Region eine innige Liebe zu diesen Bildwerken der Heiligen aus der Barockzeit zu wecken. Sie fallen auch heute noch einer Gleichgültigkeit und geringen Wertschätzung zum Opfer.
Ich kann die Pfarreien im Rheingau nur darum bitten, schützen Sie und pflegen Sie ihre Heiligenfiguren und machen sie diese bekannter. Nur so können diese erhalten und auch an ihren angestammten Plätzen bleiben.
Die Figur des Melchisedech in Niederwalluf ist absolut schützenswert und ein Meisterwerk der Rokoko-Kunst im Rheingau. Zudem ist sie ein sehr seltenes Werk von Johann Kaspar Hiernle. Eine Instandsetzung und Wiederanbringung in der Niederwallufer Kirche wäre höchst angebracht.
Als der Verfasser im Jahr 2013 mit Herrn Dr. Baron Döry zuletzt gesprochen hatte, sagte dieser, dass es zu den Hiernles nichts mehr hinzuzufügen gäbe. Er meinte damit, dass wohl kaum neue Entdeckungen zu ihnen zu erwarten wären. Der Verfasser denkt, Herr Dr. Döry würde sich sehr über diesen Fund freuen.
Alexander Wißmann M.A.
Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariä
8. Dezember 2015
[1] Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Augustin Arndt SJ, Erster Band, 6. Aufl., Regensburg, Rom, 1914, S.41.
[2] Siehe Ludwig Baron Döry: Barockplastik im ehemaligen Amt Camberg, Bad Camberg 1971/72 (= Schriftenfolge Goldener Grund, Heft 10/11), S. 73ff.
[3] Vgl. Ludwig Baron Döry: Hadamarer Barock. Sakrale Bildhauerkunst des 18. Jahrhunderts (Ausstellung im Diözesanmuseum Limburg vom 15. März 1989 bis 15. November 1990), Limburg 1989. Von Volk und Düringer aus Hadamar stammt der Michaelsaltar in St. Markus in Erbach im Rheingau (um 1735).
[4] Siehe Joachim Glatz: Sankt Stephan in Mainz. Die historische Ausstattung (= Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz, Sonderband 1990. Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte der Diözese), Mainz 1990, S. 76f.
[5] Siehe Nicole Beyer: Skulpturen des 17. Und 18. Jahrhunderts im Landesmuseum Mainz, Mainz 2001, S. 255.
[6] Von Johann Michael Hiernle stammen viele qualitätvolle Figuren auf Altären, die sich in Kirchen des Landkreises Erding erhalten haben: Angerskirchen (Vils), Auerbach bei Wartenberg (Oberbayern), Aufkirchen (Oberding), Großköchlham, Grucking, Langengeisling, Oberding, Walpertskirchen, Wörth (Landkreis Erding). Siehe Herbert Schindler: Bayerische Bildhauer. Manierismus, Barock, Rokoko im altbayerischen Unterland, München 1985, S. 250.
[7] Siehe a.a.O., S. 249.
[8] Siehe Ludwig Baron Döry: Sebastian und Johann Kaspar Hiernle. Mainzer Bildhauer der zweiten Generation, in: Mainzer Zeitschrift 79/80, 1984/85, S. 220f.
[9] Ludwig Baron Döry: Sebastian und Johann Kaspar Hiernle. Mainzer Bildhauer der zweiten Generation, in: Mainzer Zeitschrift 79/80, 1984/85 S. 226.
[10] Siehe Max Herchenröder: Der Rheingaukreis (= Die Kunstdenkmäler des Landes Hessen), Berlin 1965, S. 58.
[11] www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/lot.102.html/2014/old-master-sculpture-works-art-l14233 [zuletzt geprüft: 7.Dezember 2015].
[12] Siehe Joachim Glatz: Sankt Stephan in Mainz. Die historische Ausstattung (= Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz, Sonderband 1990. Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte der Diözese), Mainz 1990, S. 92.