Was wäre gewesen – oder: Am seidenen Faden
Die Texte des 4. Adventssonntags des Lesejahres A, die Lesungen (Jes 7, 10–14 und Röm 1, 1–7) und das Evangelium (Mt 1, 18–24), finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron oder auch bei Evangelium in Leichter Sprache.
Liebe Schwestern und Brüder,
das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt zurzeit eine interessante Ausstellung: Roads not taken – übertragen: Wege, die nicht gegangen wurden. Es wird dort darüber nachgedacht, was im 19. und 20. Jahrhundert in unserem Land anders gelaufen wäre, wenn Entscheidungen anders getroffen worden wären, Handlungen anders ausgeführt worden wären. Ein interessantes Gedankenexperiment: „Was wäre wenn…?“ Wer kennt das nicht aus der eigenen Geschichte: Was wäre heute anders, hätte ich damals dieses oder jenes getan oder nicht getan?
Alles Zufall? Es hätte so oder anders sein können? So kann es gesehen werden. Als Christ habe ich allerdings einen anderen Standpunkt: Es ist Zufall, ja, denn es ist mir zugefallen! Daran zu glauben, dass in allem eine ordnende Macht da ist, die dem Chaos, das der Mensch immer wieder anrichten will, nicht das letzte Wort gibt, ist eine typisch christliche Weltsicht. Gott hat seinen Plan mit dieser Welt, in der ich ein Teil bin, und ER ist mittendrin!
Sein Plan, lange angekündigt, zeigte sich in der Menschwerdung Christi. Erwartet und doch anders als alles, was sich Gläubige vorher darunter vorgestellt hatten: In einem entlegenen Winkel des Römischen Reiches, in ärmlicher Umgebung bei einfachen Leuten. Von dort will Er starten. Das ist Sein Projekt. Aber es braucht dafür den, der mitspielt: den Menschen, der sich darauf einlässt.
„Roads not taken“ – was wäre gewesen, hätte Josef nicht mitgespielt? Wenn er sich auf sein Recht berufen hätte, eine untreue Braut zurückzuweisen? Es ist ja keineswegs nur so, dass das „Ja“ Mariens – „Mir geschehe nach deinem Wort“ – die alles entscheidende Antwort war, damit Gott Sein Werk vollbringen konnte. Maria ohne Schutz, ohne Menschen, die ihr beistanden, wäre nicht weit gekommen – und Jesus damit auch nicht! Das „Ja“ Mariens war der Anfang, dem noch viele andere „Jas“ folgen mussten – und bis heute müssen!
Also: Was wäre gewesen? Wenn Josef „Nein“ gesagt hätte? Die ersten Jünger nicht mitgegangen wären? Paulus bei seiner Ablehnung geblieben wäre? Benedikt nicht Einsiedler geworden wäre? Die Fürsten des Völkerwanderung sich nicht für die Botschaft Jesu geöffnet hätten? Karol Wojtyła (A.d.Red.: bürgerlicher Name von Papst Johannes Paul II.) seine erste Liebe geheiratet hätte? Mutter Teresa und Mutter Elvira in ihren Stammklöstern geblieben wären …?
Ist das alles also doch „vorherbestimmt“? Gott der große Strippenzieher?
Nein, ER ist der, der Freiheit schenkt – und auf diesen Aspekt will ich hier den Blick richten: Maria, Josef, die Jünger, all die Männer und Frauen in der langen Kirchengeschichte, die sich in der Nachfolge bewährten, waren in ganz entscheidenden Stunden ihres Lebens Hörende: Sie hörten auf die Stimme ihres Gewissens – für Theologie und Kirchenrecht die höchste innerweltliche Instanz!
Von Josef heißt es im heutigen Evangelium, dass er „gerecht war“: Er war ausgerichtet auf den Willen Gottes, er war bereit, Gott in seinem Leben eine Rolle spielen zu lassen.
Ich staune: An welch‘ seidene Fäden Gott Seine Geschichte mit uns Menschen hängt! Welches Vertrauen ER in Seine Schöpfung hat.
Wir gehen auf Weihnachten zu. Das unterscheidet uns nicht von den meisten in unserer Gesellschaft. Allerdings: Als Christen könnten wir es anders tun – als Christen könnten wir es tatsächlich systemverändernd tun: Indem wir noch mehr als bisher lernen, dazu bereit sind, auf die Stimme Gottes in uns zu hören, auf die Stimme des Gewissens! In Josef und vielen anderen zeigt uns Gott, dass ER nicht auf unser Mitwirken in und für diese Welt verzichten will. Dafür muss der Mensch bereit sein – dafür muss er auch bereitet werden! Wie wichtig ist es, in unseren Familien und Gemeinden Orte zu haben, die helfen, dem Gewissen zu folgen, ja es erst einmal zu hören!
„Roads not taken“ – was wäre gewesen? Nein, ich möchte mich nach vorne ausstrecken. Ich möchte daran festhalten, dass auch in scheinbar kleinen Ereignissen und Entscheidungen Großes verborgen liegt, das Gott wachsen lassen kann, wenn ich Ihm die Chance dazu gebe. Denn dieser große Gott hat sich selbst so klein gemacht, dass Er Seine Entscheidungen und Ratschlüsse an seidene Fäden hängt: An unsere freie Entscheidung.
Wer es zu erahnen beginnt, kann nur staunen – und bitten.
Amen.
Unseren Herrn Jesus Christus, dessen Ankunft wir erwarten, bitten wir:
- Josef stand vor einer schwierigen Entscheidung als ihm ein Engel im Traum erschien: Wir bitten Dich für diejenigen, die sich in diesen Tagen sorgen, die um eine Lösung drängender Probleme ringen, die nach Orientierung Ausschau halten.
(Christus, höre uns – Christus, erhöre uns) - Josef überlegte, sich in aller Stille von Maria zu trennen: Wir bitten für alle Paare, die es schwer miteinander haben und nicht wissen, wie es weitergehen soll.
- Wir bitten Dich auch für die Menschen, mit denen wir die kommenden Feiertage verbringen werden: Schenke uns die Aufmerksamkeit dafür, uns über die Anwesenheit Deines Geistes unter uns zu freuen.
- Wir bitten Dich für Valentin Fiedler, den wir heute als Küster in Kiedrich verabschieden: Vergelt ihm seinen Dienst und seinen Einsatz für unsere Kirche. Wir danken Dir für alle Männer und Frauen, die sich für unsere Gemeinde einsetzen und erbitten ihnen allen Deinen Schutz.
- Wir bitten Dich in diesen Tagen auch für unsere Verstorbenen, besonders für diejenigen, die seit dem letzten Weihnachtsfest von uns gegangen sind: dass sie im hellen Glanz Deines Lichtes leben dürfen.
Dir sei Dank mit dem Vater und dem Heiligen Geist in alle Ewigkeit.
Amen.