Lazarus – oder: Leben im Jetzt
Liebe Schwestern und Brüder,
auch an diesem Sonntag gibt es meine Worte „nur“ schriftlich – Gedanken zum Evangelium der Auferweckung des Lazarus: Joh 11, 1-45.
- Im Johannesevangelium ist die Auferweckung des Lazarus von den Toten das letzte von den sogenannten sieben Zeichen, die Jesus wirkt: Vom Weinwunder in Kana, über die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten, die Heilung des Gelähmten, die Speisung des Volkes, den Seewandel und die Heilung des Blindgeborenen bildet diese Erzählung den Höhepunkt der Zeichenhandlungen Jesu und will zeigen: ER, Jesus, ist wirklich der Messias, mit Ihm beginnt schon jetzt das Reich Gottes unter uns. Zeichen, keine Wunder, Hinweise also – für den, der sehen will.
Für den, der es als „Wunder“ versteht, muss die Frage aufkommen: warum nur bei Lazarus? Warum nicht bei anderen? Bei einem Angehörigen, einem Freund, bei den Toten, die durch Corona gestorben sind … Was hilft uns da die Erzählung von Lazarus?
Andersherum: wer es als reines Wunder versteht, darf der Frage dann nicht ausweichen, wie es Lazarus denn mit dem Wissen gegangen ist, noch einmal sterben zu müssen? Denn der leibliche Tod wartet so oder so auf ihn – wie auf jeden von uns.
Nein, mit einem solchen Verständnis wäre niemandem geholfen – zumindest nicht auf lange Sicht!
- Mich hat vor einigen Jahren diese Erzählung zu Tränen gerührt, als ich sie nachspielte! Ja, genau, nachspielte! Ich war für ein paar Monate bei der Gemeinschaft Cenacolo, in der meist junge Menschen für einige Zeit zusammen leben, die aus der Welt der Drogen kommen. Dabei entdecken sie die heilende Kraft des Glaubens. Seit einigen Jahren führen sie auch biblische Stücke auf, wie z.B. das Leben Jesu. Dabei geht es nicht um ein „Theater“, sondern letztlich um ihr eigenes Leben, das durch diesen Jesus verändert, ja gerettet wurde. Bei der Szene der Auferweckung des Lazarus nun spielte Federico den Lazarus: Wie er da aus dem Grab kam, in den Armen Jesu lag, wir alle auf der Bühne staunten, uns freuten – da war ich jedes Mal so tief gerührt: Denn Federico war Lazarus, er war tot, er lebte als lebender Toter in der Welt der Drogen und der sozialen Isolation. Und er kehrte zurück ins Leben, in die Gemeinschaft, auch in die Gemeinschaft mit Jesus. Ich höre immer wieder von ihm und sehe ihn meist einmal im Jahr und freue mich an seiner Entwicklung: Jemand, der wie er den Tod gesehen hat, lebt anders, befreiter, bewusster, zielorientierter. Er weiß ganz anders als andere in seinem Alter, worauf es ankommt.
Das ist für mich wirklich Frohe Botschaft: Leben im Jetzt, „jenseits“ des Todes. Es ist in unserem Leben immer wieder so, dass etwas sterben muss – und das kann genau so schmerzlich sein wie ein leiblicher Tod. Warum lässt Gott das zu? Diesen Vorwurf bekommt Jesus zu hören. Auf jeden Fall nicht, weil ER uns quälen will oder Freude hätte an unserem Leid! Jesus kommt in unserem Verständnis dann „zu spät“ – und doch kommt ER zur genau richtigen Zeit.
Vielleicht muss ein Mensch zumindest einmal diese Erfahrung gemacht haben, um künftig darauf vertrauen zu können, dass ER wirklich der Retter ist. Kollektiv erleben wir jetzt gemeinsam eine Zeit, die auch eine Zeit der Krise, des Verlustes und ja auch des Sterbens ist. Wir Christen könnten und sollten hier für unsere Zeitgenossen Zeichen und Zeugen der Hoffnung sein: Es wir nicht einfach alles wieder „gut“ – das ist eine allzu billige und letztlich doch auch naive Vertröstung. Aber es wird zum Leben führen. Anders – gewiss! Aber Leben – vertiefter, bewusster, veränderter. Das bedeutet nicht, dass uns hier und jetzt Angst und Tränen erspart werden würden. Das ist menschlich und auch ein Zeichen unserer Hilflosigkeit. Wir können nicht alles. Und wir müssen es auch nicht – denn es gibt einen, dem ALLES möglich ist und der es für uns wirkt – weil ER uns liebt. Der das Leben liebt. Immer. Auch das unsere. Auch das meine.
Amen.