„I have a dream“ – oder: von der Kraft der Visionen


Die Texte des 2. Adventssonntags des Lesejahres A, die Lesungen (Jes 11, 1–10 und Röm 15, 4–9) und das Evangelium (Mt 3, 1–12), finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron oder auch bei Evangelium in Leichter Sprache.
Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt sie: Visionen, die uns begeistern können. Visionen, die uns helfen, Kräfte zu mobilisieren, etwas zusammen auf die Beine zu stellen. Es sind immer wieder Einzelne, die einer Vision ins Leben verhelfen: „I have a dream“, sagte jemand vor beinahe 60 Jahren und löste eine nie geahnte Veränderung aus. „Yes, we can!“ erscholl vor 14 Jahren und machte Menschen in vielen Teilen der Welt Mut. „Wir schaffen das!“ war ein Wort in einer chaotischen, nie zuvor dagewesenen Situation und appellierte an die besten Tugenden der Deutschen, gemeinsam eine Krise zu meistern – und es gelang!
- Es scheint, dass uns Menschen immer wieder in bedrängender Zeit Visionen und Visionäre geschenkt werden, die eine enorme Kraft entfalten können. Später erinnern wir uns daran, spätere Generationen erzählen davon: „Damals, weißt du noch, da passierte etwas…“! Wie ist das heute?
Wie hören jedes Jahr im Advent von einer solchen Vision. Jesaja erzählt sie. Er ist überzeugt, von Gottes Vision zu berichten. Einem traurigen, verlorenen Volk, das in Babylon im Exil sitzt und scheinbar alles verloren hat – selbst verschuldet! – sagt er zu: Da kommt einer. Vertraut. Der wird alles verändern: „Der Geist des Herrn ruht auf ihm!“ Das ist das eine. Das andere ist aber, was dann geschieht – und dabei werden Bilder benutzt: Der Wolf findet Schutz beim Lamm. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind!
Weil auf einem der Geist Gottes ruht, brechen Zustände aus, wie Gott sie sich erträumt! Weil einer da ist, lassen sich andere davon anstecken. Jesaja spricht davon, dass das Land plötzlich erfüllt wird „von der Erkenntnis des Herrn“! Die Menschen sind dafür offen, weil einer es lebt, vorlebt.
„Erkenntnis“ meint im Hebräischen nicht, wie wir es verstehen, eine Angelegenheit des Verstandes. Im Orient meint es: ich spüre, dass das richtig ist. Da ergreift mich etwas, das mich in Bann zieht, dem ich mich ganz und gar hingebe, wofür ich mich einsetzen möchte. Ich erkenne: Das ist richtig!
- Liebe Schwestern und Brüder, wenn nicht jetzt, wann dann braucht es Menschen die eine andere Vision vom Miteinander der Menschen haben, das sich von dem unterschiedet, was wir gerade erleben, worunter wir leiden?!
Menschen wenden sich in Scharen vom Christentum, von der Kirche ab. Augenscheinlich wegen unserer Skandale. Aber – und davon bin ich überzeugt! – viel tiefer liegt doch die Enttäuschung darüber, dass wir nichts mehr von der Vision Gottes ausstrahlen: Von Seiner Vision für diese Welt, für unser Miteinander.
Diese Vision spricht nicht von einem Glaubensaufbruch; nicht von vollen Kirchen; nicht von steigenden Berufungen; nicht davon, dass sich Jugendliche und Erwachsene in Scharen in der Kirche engagieren. Diese Vision Gottes spricht von einem Miteinander der Menschen, wie Gott es sich wünscht: Eben Panther und Böcklein, Kuh und Bärin, Säugling und Natter. Wie können diese Gegensätze überbrückt werden? Jesaja ist da ganz deutlich: Weil die Gotteserkenntnis das Land erfüllt! Weil Menschen da sind, die diese Erlkenntnis leben. Die dem Geist der Bergpredigt ihre Hände und Füße zur Verfügung stellen. Und die neugierig darauf machen, welche Kraft man sich in Kirche und Gottesdienst holen kann. Eine solche „Erkenntnis“ bringt Früchte!
„Ein junger Trieb aus dem Baumstumpf der Kirche“ – der kann ich sein, jeder und jede von uns! Stellen wir uns das doch einmal vor: Indem einer anfängt, auf dem der Geist Gottes ruht – und wir sind „Christen“, die Gesalbten, auf denen dieser Geist ruht! – wird es geschehen, dass sich etwas ändert!
Wir glauben nicht daran! Es brauchte damals in Babylon Zeit, bis sich die Versprengten Israels dafür öffneten: Zu sehr waren sie mit den eigenen Wunden, dem eigenen Selbstmitleid und auch der eigenen Schuld beschäftigt.
Ja, es ist auch bei uns Trauer über den Verlust zu spüren, und Ärger über die Missstände. Wäre es nicht dennoch Zeit, uns der Vision zu öffnen, die Gott hat. Da es Seine Vision ist, wird sie kein Traum bleiben, wenn wir uns ihr öffnen.
„I have a dream“, bekommen wir heute wieder gesagt. „Yes, we can!“, behaupte ich. „Wir schaffen das!“, wäre eine tolle Antwort, die wir hier heute geben können.
Amen.
Gottes Vision für den Menschen ist in Jesus Christus sichtbar geworden. Ihn bitten wir:
- Herr Jesus Christus, schenke uns in diesen Wochen des Advent den Mut, Deinen Traum von einem neuen Miteinander in unserem Denken, Sprechen und Handeln in unserem Alltag zu verwirklichen.
(Komm, Herr Jesus – komm, Herr Jesus) - Lass Deine Kirche in unserer Welt Sauerteig Deines Wortes sein und hilf allen Christen, durch ein neues Sprechen gerade den Armen und Ausgeschlossenen Deine Nähe glaubwürdig zu bezeugen.
- Wir bitten Dich für diejenigen, die in dieser Zeit der Krisen dafür sorgen, dass es uns nicht am Nötigsten fehlt: In der Medizin und Pflege, in Wirtschaft und Arbeitswelt, in Gesellschaft und Politik.
- Lass uns diejenigen nicht vergessen, die in diesen Tagen einer helfenden Hand, eines tröstenden Wortes, einer Geste der Nähe bedürfen.
- Lass unsere Verstorbenen erfahren, dass Deine Frohe Botschaft an ihnen in Erfüllung gegangen ist.
Du bist der, der vom Vater in unser Fleisch gekommen ist, mit dem Du in der Einheit des Heiligen Geistes lebst und herrschst in alle Ewigkeit.
Amen.
