Haben oder Sein
Die Texte am 32. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B, die Lesungen (1 Kön 17, 10–16 und Hebr 9, 24–28) und das Evangelium (Mk 12, 38–44), finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron oder auch bei Evangelium in Leichter Sprache.
Liebe Schwestern und Brüder,
dieses Buch des Philosophen und Psychoanalytikers Erich Fromm habe ich als Jugendlicher Anfang der 80iger Jahre mit vielen meiner Altersgenossen verschlungen. „Haben oder Sein – die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ lautet der Untertitel. Viele meiner damaligen Freunde waren wie ich eher „links“ eingestellt, ich selbst begann darüber hinaus damals gerade damit, die Bibel zu entdecken, die Bergpredigt – und ein neuer charismatischer Bischof Franz Kamphaus kam da gerade recht! Haben oder Sein – darum geht es. Das ist hochaktuell. Damals genauso wie es das heute ist – sonst würde ich es auch hier nicht erwähnen.
Haben oder Sein – ich möchte es nicht überstrapazieren und doch sehe ich etwas Entscheidendes von diesem Gegensatz im heutigen Evangelium. Jesus lässt Seine Zuhörer an Seiner Beobachtung teilnehmen. Dafür wählt er einerseits die im Volk privilegierte Personengruppe der Schriftgelehrten und andererseits eine Frau, die am unteren Rand der gesellschaftlichen Hierarchie steht.
Schriftgelehrte: Solche, die sich auskennen mit der Religion, die damit ihre Stellung in der Gesellschaft definieren, genießen und einfordern. Sie „haben“ die Religion auf ihrer Seite und setzen sich entsprechend ein. Über Religion Bescheid zu wissen; mit Ansichten und Meinungen über Gott und Kirche hausieren zu gehen und dadurch um Anerkennung zu heischen – das ist heute keineswegs nur auf „Männer in langen Gewändern“ beschränkt. Ein Wissen zu haben und damit über Gott und Seine mutmaßlichen Ansichten verfügen zu können: solche Menschen schrecken – zumindest mich – ab. Und gleichzeitig wird hier ein Stopp-Schild aufgestellt: Von außen können wir es letztlich nicht beurteilen. Aber Jesus sieht es. ER sieht in das Heiligtum des Herzens, auch des meinen! Haben oder Sein.
Die arme Witwe: Wir sind leicht versucht, die Worte Jesu über sie so zu verstehen, als müsse ihr Handeln nun Maßstab für uns alle sein, dass wir also materiell alles geben, spenden, einsetzen sollen – für was auch immer. Der berechtigte Einwand darauf „wo kämen wir da hin, wenn alle das täten?“ läuft letztlich auf die Frage hinaus: Was habe ich davon? Haben oder Sein?
Was Jesus im Tempel beobachtet: Diese arme Frau verfügt nicht über die Religion, sie erkauft sich nichts oder möchte gut dastehen. Diese Frau lebt offensichtlich aus einem tiefen Vertrauen. Ihr Sein bestimmt ihr Handeln.
Wieviel Prozent meines Einkommens ich spende, wie viel Zeit ich für das Reich Gottes einsetze – all das sagt nichts über mein inneres Verhältnis zu Gott aus!
Natürlich: es kann ein Hinweis sein. Aber mehr auch nicht.
Hier betreten wir eben das Heiligtum des Menschen und hier ist jeder und jede von uns gefragt, eingeladen, sich der Begegnung mit dem Herrn zu stellen. Es geht darum, aus dem Vertrauen gegenüber IHM zu leben, darin zu wachsen. Wenn man so will: Es geht um Alles oder Nichts, um Haben oder Sein!
Von manchen Zeitgenossen wird das Christentum ja immer noch als „Buchreligion“ angesehen. Das ist es nicht! Weit gefehlt. Es geht nicht um ein Buch, es geht um eine Beziehung. Eben: Haben oder Sein.
Als Jugendlicher war ich von Erich Fromms Buch gefesselt. Ein anderer, ein alternativer Lebensstil wurde da angeboten, etwas, was einen Staat, eine Gesellschaft – und auch eine Kirche – verändern kann, eine „seelische Grundlage“ eben. Heute, noch im gleichen Geist, bete ich: Herr, mach bitte eine bessere Welt und fange bei mir an …
Was ich gebe, habe, tue, wo ich mich einsetze, meine Zeit investiere: Ich sehe Jesus gegenüber dem Opferkasten meines Lebens sitzen, wo er beobachtet, wahrnimmt. Ich komme mit Ihm darüber ins Gespräch, wie und was ich da einwerfe. Ich möchte mehr und mehr lernen, jeden Tag neu alles auf die Karte zu setzen, die letztlich in unserer Welt und gerade in dieser so bedrängenden politisch-wirtschaftlichen Zeit den Unterschied ausmachen kann: die Karte, die deutlich macht, dass mein wahres Sein nur durch Ihn, durch mein Vertrauen auf Ihn zu haben ist.
Amen.
Unser Herr Jesus Christus ruft uns, der Vorsehung des Vaters zu vertrauen. Ihn bitten wir:
- Für Deine Kirche: dass sie in unserer Welt immer mehr ein Zeichen dafür wird, dass Du mitten unter uns lebst und für uns sorgst.
(Christus, höre uns – Christus, erhöre uns) - Wir bitten für diejenigen, die in seelischer und leiblicher Not sind: Lass sie auch durch uns Deine liebende Vorsehung und Nähe erfahren.
- Wir bitten Dich für unsere Jugendlichen, die an diesem Wochenende das Sakrament der Firmung erhalten: Gib ihnen den Mut, Deinem Heiligen Geist in ihrem Leben Raum zu geben und so Deine Nähe zu erfahren.
- Wir bitten Dich auch für uns: dass wir Deine Einladung zur Sorglosigkeit annehmen und so erfahren können, wie konkret Du Dich um jeden sorgst.
- Angesichts der Not und Ängste so vieler Menschen bitten wir Dich für unsere Politiker und all die, die Verantwortung tragen: Gib ihnen den Mut, die Entscheidungen zu treffen, die das Gewissen ihnen gebietet.
- Lass unsere Verstorbenen erfahren, dass sie in Deiner Gemeinschaft geborgen sind.
Denn Du bist ein Gott, der Leben gibt. Dir sei Dank, der Du mit dem Sohn und dem Heiligen Geist lebst und herrschst.
Amen.