„Es geht! Gerecht!“- oder die Frage nach Barmherzigkeit


- „Es geht! Gerecht!“- oder die Frage nach Barmherzigkeit
Predigt von Pfr. Dr. Robert Nandkisore zum 5. Fastensonntag, der auch Misereor-Sonntag ist, zum Download.
Die Texte des 5. Fastensonntags des Lesejahres C der Lesungen (Jes 43, 16–21 und Phil 3, 8–14) und des Evangeliums (Joh 8, 1–11) finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron oder auch bei Evangelium in Leichter Sprache.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Es geht! Gerecht!“ – Stimmt das? Einfache Sätze. Schlagworte. Griffig. „Es geht“, heißt es da, und gemeint ist: „Man muss nur wollen!“ Aber auch hier: Stimmt das? Reicht es, das zu wollen? Denn ob ich will oder nicht: Was heißt denn „gerecht“? Jeder bekommt das Gleiche? Ist das wirklich – und immer – gerecht?
Das Dilemma unserer Kirche zurzeit: Durch den Skandal von Missbrauch und Macht erscheinen unsere Beiträge zu Fragen der Moral und der Ethik als nicht mehr glaubwürdig. Die Versuchung: Wir ziehen uns auf Sozialarbeit zurück. So ehrenwert das Anliegen ist: Wer der Botschaft Jesu folgt, hat viel mehr zu sagen, der kann nicht bei der bloßen Gerechtigkeit stehen bleiben!
- Wenn es nur um Gerechtigkeit ginge, dann müsste die Frau im heutigen Evangelium, die Ehebrecherin, sterben. Das jüdische Gesetz ist „gerecht“: es dreht sich darum, wie der Mensch vor Gott richtig lebt. Wenn er sich dem gegenüber verfehlt, muss er mit Strafe rechnen. Klar, geht es doch darum, dass eine von Gott errichtete Ordnung gestört wird. Diese Ordnung ermöglicht das gedeihliche und damit für alle fruchtbare Miteinander von Mensch und Gott. Diese Ordnung aus selbstsüchtigen Motiven zu stören, ist zutiefst unsozial und ungerecht! Wenn es also geht, gerecht, dann – so die Vertreter der jüdischen Ordnung – muss die Frau sterben.
Jesus ist in einer Zwickmühle, und alle Beteiligten wissen das. Hier steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt Seine eigene Glaubwürdigkeit: Gibt Er den Anklägern nach, ist Seine Botschaft erledigt; tut Er es nicht, steht Er außerhalb des Gesetzes, der jüdischen Gerechtigkeit, und auch damit hätte sich Sein Anspruch erledigt.
- Es muss gehen, gerecht – aber wie? Jesus überrascht und hebt die Frage nach der Gerechtigkeit auf eine andere Ebene: Nicht: Was kann, darf oder muss der andere bekommen, sondern: Was steht mir zu? Die Frage nach der offensichtlichen Schuld der Ehebrecherin steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern die Frage nach der dunklen Seite eines jeden von uns angesichts der Gerechtigkeit. Die Ankläger ziehen sich beschämt zurück, zumindest verfügen sie über die Fähigkeit der Selbstreflexion.
Das kann aber doch nicht die Lösung sein! Damit wird doch die Frage nach der Gerechtigkeit nicht beantwortet! Jemand könnte sagen: „Naja, man muss halt klug sein und sich nicht erwischen lassen!“ Oder: „Dass wir in einem reichen Land leben haben wir uns verdient. Andere Länder könnten das doch auch. Warum sollen wir auf Privilegien, auf unseren Reichtum verzichten? Warum sollten wir uns ein schlechtes Gewissen machen, wenn wir die Früchte unserer Leistung genießen?“
- Die Botschaft Jesu fügt der Forderung nach Gerechtigkeit noch etwas ganz Entscheidendes hinzu – und wir konnten das am letzten Sonntag im Blick auf die Erzählung vom verlorenen Sohn sehen: die Haltung der Barmherzigkeit. Ohne sie wären wir verloren.
Warum auch immer es so ist: Wir Menschen könnten unter dem puren Anspruch der Gerechtigkeit nicht leben, eben weil jeder und jede von uns auch eine dunkle Seite hat – oder unter Bedingungen lebt, die nicht die Schuld des Einzelnen sind.
Barmherzigkeit: Ich, dein Gott, sehe dich. Dich und deine Geschichte. Dich und dein Ringen. Ich weiß um dich – und deswegen weiß ich, dass du liebenswert bist. Ich möchte dir helfen, dass du der wirst, der du wirklich bist.
- Wer das verstanden, begriffen hat, wer von dieser Haltung Gottes tief getroffen ist, der kann wie Paulus in seinem Brief an die Philipper nur sagen: „Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft“. (3,8)
Die Barmherzigkeit ermöglicht es, in einer Weise gerecht zu sein, die unser aller Leben menschlich macht. Sie ermöglicht einen umfassenderen Blick auf die schuldig Gewordenen – wie die Ehebrecherin – indem mehr als die Schuld gesehen wird. Sie ermöglicht darüber hinaus eine Haltung, die andere Menschen, die in Not sind, sieht und sie nicht einfach ihrem Schicksal oder der Sorge der „Verantwortlichen“ überlässt – wie auf den Philippinen oder in Bangladesch.
So gesehen geht es wirklich – wenn wir die Gerechtigkeit im Sinne Jesu verstehen.
Amen.
Unser Herr Jesus Christus verkündet das Wort des Lebens, das wir in der Kirche und durch unser Leben bezeugen sollen. Ihn wollen wir bitten:
- Schenke uns ein Gespür für die Wirklichkeit unseres eigenen Versagens, damit wir uns von Dir die Vergebung zusprechen und uns so heilen lassen können.
- In diesen so bedrängenden Wochen bitten wir Dich für alle verantwortlichen Kriegs- und Konfliktparteien: Lass sie begreifen, wie heilig jedes einzelne Menschenleben ist und schenke ihnen die Bereitschaft, sich dem Frieden und der Versöhnung zu öffnen.
- Hilf uns durch Dein Beispiel, gerade jetzt denen nahe zu sein, die durch Flucht und Zerstörung ihre Heimat verlassen mussten, und lass uns ihnen so Deine Sorge und Gegenwart bezeugen.
- Lass uns durch unser Misereor-Opfer denen ein Zeichen der Nähe und Solidarität schenken, die sich angesichts ihrer Sorgen und Nöte und der Bedrohung ihrer Lebensräume von vielen verlassen fühlen.
- Schenke unseren Verstorbenen, die du als Schöpfer ins Leben gerufen hast, das ewige Leben in deiner Gegenwart.
Denn bei dir ist Heil und Leben in Fülle. Dafür danken wir dir und preisen dich mit dem Vater im Heiligen Geist, heute und in Ewigkeit.
Amen.
