Die Ethik Jesu – oder: Leben aus der Begegnung mit IHM


Die Texte am 6. Sonntag des Jahreskreises des Lesejahres C, die Lesung (Jer 17, 5–8 und 1 Kor 15, 12.16–20) und das Evangelium (Lk 6, 17.20–26), finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron und beim Evangelium in leichter Sprache.

Liebe Schwestern und Brüder,
Veränderungen müssen her, große Erwartungen sind beinahe greifbar zu spüren. Vielleicht ist es etwas übertrieben zu behaupten, dass Menschen beinahe „elektrisiert“ sind, dennoch lässt sich so die Stimmung gut beschreiben. Dabei ist sie in Teilen durchaus sehr aggressiv aufgeladen: Man möchte endlich wieder die Kontrolle über das eigene Land und Schicksal in die Hände bekommen und die derzeitige Obrigkeit wird nicht gerade als vertrauenswürdig eingeschätzt. Wenn jetzt jemand kommen würde, der das Heft des Handelns in die Hand nähme, wäre ihm die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung sicher.
So lässt sich grob skizziert die gesellschaftlich-politische Lage in Judäa und Galiläa zur Zeit Jesu umschreiben – und in dieser Situation tritt Jesus an die Öffentlichkeit. Ein Gesandter Gottes, ein Messias soll, ja muss die Königsherrschaft Gottes wieder aufrichten. Dies zeigt sich in erster Linie daran, dass die Fremden, die römische Besatzungsmacht, aus dem Land vertrieben wird. Aber auch innerhalb der Volksgemeinschaft gilt es, endlich wieder Gerechtigkeit und Ordnung wiederherzustellen, die ihr Zentrum in der richtigen Gottesverehrung haben.
So gesehen: ein Pulverfass! So wurde dieser Konfliktherd auch vom fernen Rom aus eingeschätzt.
So tritt Jesus also auf und wird von Anfang an mit Erwartungen konfrontiert. Das zeigt sich ganz zu Anfang schon, als ER in Seiner Heimatstadt Nazareth auftritt: Vor Wut über Seinen Anspruch und Seine Botschaft hätte man Ihn dort beinahe getötet.
Was will Er genau? Möchte Er nicht die Befreiung Seines Volkes, möchte Er nicht die Veränderung, die viele ersehnen?
Es ist die persönliche Begegnung, die Menschen für Ihn einnimmt, vor allem: dass ER heilt! So viele Gebrechen, Krankheiten, Behinderungen – in Seiner Nähe wird alles gut! ER beruft Menschen, die Ihm folgen, und dann kommt es zur ersten großen Rede. Die Evangelisten Matthäus und Lukas überliefern sie uns: die Bergpredigt bzw. die Feldrede. „Selig ihr Armen, ihr Hungernden, ihr Weinenden; selig ihr, die ihr gehasst werdet, weil ihr euch zu mir bekennt“. Der Evangelist Lukas begnügt sich nicht mit Seligpreisungen, er führt noch Wehe-Rufe an: „Wehe euch Reichen, euch Satten, euch Lachenden, euch, die ihr von allen gelobt werdet“. Was macht Jesus da? Redet man so, wenn man die Massen hinter sich vereinen will?
Jesus hält keine Parteitagsrede! ER sieht die Menschen, die ganz konkret vor Ihm sitzen. Und Er erreicht ihr Herz! Was Er sagt ist das, was sie ersehnen! Es geht gar nicht um einen Kulturkampf, sondern es geht um Grundbedingungen eines erfüllten Lebens. Und diese Grundbedingungen ersehnen sich alle. Sonst wären sie es nicht: Grundbedingungen.
Können wir von einer Ethik Jesu sprechen? Wir sind hier nicht in einem Philosophieseminar und sprechen über einen Jesus von Nazareth. Wir sind in der Kirche und der Gottessohn Jesus Christus möchte Aug‘ in Auge (was für ein Anspruch!) mit uns über das Leben sprechen, das ER sich für uns wünscht. Für uns alle!
Ein Gespräch mit dem Gottessohn ist niemals abstrakt, sondern immer konkret – und es findet immer „jetzt“ statt, in der Situation und den Lebensumständen, in denen wir uns befinden.
Als Christ, als „Gesalbter“ denke ich nicht einfach nur über ein Wort Jesu nach, sondern ich möchte aus der Haltung der Freundschaft mit Ihm leben, einer Haltung, die Seiner Gesinnung am Nächsten kommt: „Selig bist du in all deinen Fragen und Ängsten, deinem Alleinsein und deinen Zweifeln, in dem Suchen nach dem richtigen Weg – glaube und vertraue mir!“ Aus diesem Geist möchte ich meinen Alltag gestalten, die Höhen und Tiefen, die Herausforderungen und Konflikte, mein berufliches und privates Umfeld, die Zerwürfnisse, Geborgenheiten und Freundschaften.
Ja, es braucht Veränderungen und es gibt daran berechtigte Erwartungen – im Gespräch mit dem Gottessohn erkenne ich, dass wahre Veränderungen aus einem Herzen kommen, das von Seiner Gegenwart berührt wird.
Um ein solches Herz müssen wir, wir Christen, bemüht sein – gerade jetzt, in Zeiten der Wahl, bei der so viel auf dem Spiel steht.
Amen
Herr Jesus Christus, Du hast Deinen Jüngern eine frohmachende Botschaft verkündet. Wir bitten Dich:
- Armut gibt es auf so vielfältige Weise. Lass uns Deine Botschaft durch Wort und Tat bezeugen, und schenke auch unserer Armut den Reichtum Deiner Freundschaft.
Du Gott der Armen - wir bitten Dich, erhöre uns. - Viele Menschen hungern: nach Frieden und Gerechtigkeit, nach Essen und Trinken, nach Geborgenheit und Zuwendung. Mach Dich ihnen erfahrbar - auch durch uns.
Du Gott der Hungernden - wir bitten Dich, erhöre uns. - So viele Tränen werden vergossen, ohne dass sie eine liebende Hand abwischt. Schenke uns ein aufmerksames Gespür für die Nöte unserer Nächsten und schenke auch uns den Mut, uns bedürftig zu zeigen.
Du Gott der Weinenden - wir bitten Dich, erhöre uns. - Menschen in unserem Land suchen nach Wegen, um nötige Veränderungen zu ermöglichen und sehnen sich nach Sicherheit. Schenke uns Deinen Geist der Besonnenheit, um eine Regierung zu wählen, die dem Menschen und der Schöpfung dient.
Du Gott der Suchenden - wir bitten Dich, erhöre uns. - Auch heute werden Menschen verfolgt und beschimpft, weil sie sich zu Dir bekennen. Stärke sie in ihrem Zeugnis und schenke ihnen wirksame Solidarität.
Du Gott der Verfolgten - wir bitten Dich, erhöre uns. - Wir bitten Dich auch für unsere Toten, die von uns gegangen sind und eine Leere hinterlassen, und wir bitten für diejenigen, die keiner mehr vermisst.
Du Gott der Lebenden - wir bitten dich, erhöre uns.
Du bist der, der uns mit seiner Freundschaft beschenken will. Dir sei Dank, der Du mit dem Vater und dem Geist lebst und uns liebst in alle Ewigkeit.
Amen.
