Der heilende Christus – oder: sich das Leben neu schenken lassen
Die Texte am 13. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B, die Lesungen (Weish 1, 13–15; 2, 23–24 und 2 Kor 8, 7.9.13–15) und das Evangelium (Mk 5, 21–43), finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron oder auch bei Evangelium in Leichter Sprache.
Liebe Schwestern und Brüder,
wie schon am letzten Sonntag mit der Erzählung vom Seesturm, können wir das heutige Evangelium einfach als Bericht über zwei Heilungswunder sehen, ohne dass dies größeren Nährwert für uns hätte. Oder wir versuchen auch hier, uns durch die drei synoptischen Evangelisten – Mt, Mk, Lk – die uns übereinstimmend von diesen beiden in sich verschränkten Heilungen berichten, in eine Tiefe führen zu lassen, die jeden von uns unmittelbar berühren und verändern kann.
- Eine Frau, die an Blutungen litt, und ein junges, sterbendes Mädchen haben erst einmal wenig miteinander zu tun, außer dass Jesus mit ihnen in Berührung kommt. Doch dann fällt eine weitere Verbindung auf: zwölf! Zwölf Jahre litt die Frau schon und das Mädchen ist zwölf Jahre alt. Zwölf: Da wird etwas vollständig, ist stimmig, Neues kann kommen.
Die Frau ist schon lange krank. Blutfluss. Was wir heute übersehen: Die Frau lebte in ständiger Furcht, das könnte jemand bemerken, denn sie ist durch diese Erkrankung unrein! Sie dürfte keinen menschlichen Kontakt haben, denn alles und jeden, den sie berührt, wird „unrein“! Ärzten vertraute sie sich an – die nehmen ihr nach und nach das Geld. Werden sie so auch zum Schweigen gebracht? Eine lange Zeit geht das so. Jemand lebt nach außen ein scheinbar normales Leben, doch unbemerkt von anderen schwelt im Inneren die Angst, etwas könnte bekannt werden: eine Schuld, eine Krankheit, eine Veranlagung. Welche Lebensenergie wird da aufgebraucht?! Welche Ängste müssen da ständig unterdrückt werden? „Unrein“ – wenn die anderen wüssten, wer ich wirklich bin…! Man ist ständig auf der Hut und letztlich so einsam. Eine lange Zeit versuchte die Frau, mit eigenen Mitteln Abhilfe zu schaffen. Es gelang nicht. Doch dann, endlich: zwölf Jahre sind vorbei. Endlich fasst sie sich ein Herz und geht zu Jesus. ER kann retten. ER tut es. Aber nicht anonym: Es kommt zu einer Begegnung, einem Verstehen, einer Aussprache und Annahme (all das also, was eine wirkliche Beichte ausmacht!). Möge jetzt endlich Frieden über sie kommen: Sie ist rein! Wenn es gelänge, das auch heute Menschen zu vermitteln: Kirche hätte eine enorme Sprengkraft!
- Das zwölfjährige Mädchen. Der Kontext ist wichtig: Sie ist Tochter eines Synagogenvorstehers. Eine solche Familie steht in der Öffentlichkeit (vergleichbar einer evangelischen Pfarrerfamilie). Die Tochter muss allen Erwartungen entsprechen, vorbildlich sein. Eigene Interessen haben da wenig Platz. Mit zwölf Jahren ist sie im heiratsfähigen Alter. Sicher haben die Eltern da schon jemanden vorgesehen. Zwölf Jahre: es reicht! Sie kann nicht mehr. Jetzt kommt der Lebenswille zum Erliegen. Tot. Das meint mehr als nur ein biologisches Datum. Das Familiensystem kann sich aus sich heraus nicht ändern. Entweder der Tod bringt’s zum Ende – oder Christus ein befreites Leben! Der Vater wagt den Sprung. Jesus sagt, dass das Mädchen nur schlafe. Alles Lebendige erscheint wie tot. Wir nennen das heute Depression. Der Tod ist des Schlafes Bruder.
Es gibt sie: Menschen, die von Kindheit an meinen, nicht ihr eigenes Leben führen zu dürfen. Da müssen sie Ansprüchen genügen, Erwartungen entsprechen. Eigenes kommt zu kurz. Ein kleines Mädchen, ein kleiner Junge sind da schon längst erwachsen, der eigene Lebenswille ist es aber nicht. Sie wollen niemanden enttäuschen und wollen gleichzeitig leben, gesehen werden. Ein innerer Kampf, der zur Blockade führt. Was wäre, wenn sie das Leben lebten, das sie in sich spüren – das sie in sich spürten?
Wir sehen: Das Mädchen und die blutflüssige Frau haben vieles gemeinsam. Und dieses Evangelium hat es in sich.
Es spricht zu uns von der Kraft, die durch Christus kommt, eine Kraft, das Leben zu bejahen und dem Heiland Raum zu geben. Der Heiland, der den Menschen, den ER geschaffen hat, so möchte, wie er geschaffen wurde!
Ich träume von einer Kirche und Gemeinde, in denen die Begegnung mit diesem Christus wieder allein im Zentrum steht. Wo wir Gläubige wie Speichen eines Rades weit in die Peripherie hineinreichen, aber deutlich auf das Zentrum verweisen und selbst von dort zusammengehalten werden. Ich glaube, dass es langsam Zeit wird: dass die „zwölf Jahre“ vorüber sind und wir mit unseren kirchlichen Selbstheilungsversuchen an ein Ende gekommen sind. Fassen wir Sein Gewand an, als Gemeinschaft und als Einzelne, lassen wir uns zusagen: du bist rein! Du darfst leben. Davon gebt Zeugnis.
Amen.
In Christus erkennen wir die Barmherzigkeit Gottes. Ihn bitten wir:
- Für Deine Kirche und für jeden Christen: Schenke uns den Mut, unsere Erfahrung der Annahme durch Dich durch unser Reden und Tun in unserem Alltag zu bezeugen.
(Christus, höre uns – Christus, erhöre uns) - Für alle Menschen, die in Not geraten sind; die Kranken und Trauernden, für die, die Angst haben und einsam sind: Lass sie erfahren, dass Du ihnen Leben eröffnen willst.
- Für alle, denen wir das Gebet versprochen haben und um die wir uns sorgen und besonders für die, mit denen wir uns schwer tun.
- Für alle Jugendlichen, die in diesen Wochen die Schule verlassen und eine Ausbildung, ein Studium oder ein Soziales Jahr beginnen und für alle, die in diesen Wochen Erholung an Leib und Seele suchen.
- Für unsere Verstorbenen: für die, die wir vermissen und für die, an die niemand mehr denkt: Lass sie an Deinem Leben teilhaben.
Denn du bist der, der uns auf unseren Wegen begleitet. Dir sei Dank, der Du mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebst und herrschst in alle Ewigkeit.
Amen.