Liebe Schwestern und Brüder,
das Bild vom Guten Hirten – wie vielen anderen auch, ist es mir sehr vertraut. Für mich und meine Generation (und für die älteren noch einmal mehr) gehört es sozusagen zur katholischen Grundausstattung! Ich erinnere mich gut: Während der Zeit meines Studiums in Rom und der Begegnung mit dem frühen Christentum konnte ich erfahren, dass dieses Bild neben dem des Ankers oder des Jona eines derjenigen war, das äußerst häufig auf Darstellungen gerade in den Katakomben zu finden war: der Gute Hirte, der den Menschen, seine Seele, auf die Schultern nimmt und „nach Hause“ bringt! Ein Bild des Trostes, der Geborgenheit, des Vertrauens.
Vor eineinhalb Jahren setzte ich mich mit dem Text aus dem 10. Kapitel des Johannesevangeliums wieder einmal näher auseinander: ein Freund feierte sein 25-jähriges Priesterjubiläum und bat mich, ihm die Predigt zu halten. Als junger Priester hatte er sich diesen Guten Hirten als Primizbild über sein Wirken gestellt und nach 25 Jahre galt es, dies noch einmal zu überprüfen. Dabei wurde schnell klar: Dieses romantische Bild der Geborgenheit wurde von der Realität verschlungen! In Deutschland und nicht nur hier saß der Schreck über den sexuellen Missbrauch tief, die damals gerade veröffentlichte MHG-Studie offenbarte ein unglaubliches Versagen der Hierarchie. Einer Hierarchie, die sich gerne „Hirten“ nennt und nennen lässt! Auch wenn ich weiß, dass Paulus selbst in seinen Briefen die Gemeindeleiter „Hirten“ nennt, so können wir doch davon ausgehen, dass dieser Titel auf Jesus zurückgeht, auf eine Selbstbezeichnung von Ihm. Der Hirt war immer eine Bild für Gott, der Sein Volk führt und leitet. Und dieser Hirt hat in Jesus eine konkrete, eine menschliche Gestalt bekommen. Dieser Hirt, der die Seinen kennt, der dem verlorenen Schaf nachgeht, der kein Mietling ist, sondern sich und sein Leben für die Seinen einsetzt.
Während ich mich also auf die Predigt für den Freund vorbereitete merkte ich für mich, dass dieses Bild des Hirten gereinigt werden muss: Es muss gereinigt werden von allen Verunstaltungen und Missgriffen, von allen Anmaßungen und Zuschreibungen, die es erfahren hatte. ER, Jesus, ist der Hirte, der Gute Hirte. Wir sollten für eine ganze Zeit einmal Abstand davon nehmen, irgendjemand anderen – gerade in der Kirche! – als Hirten zu bezeichnen. Gerade wenn es uns um die positive Besetzung dieses Bildes geht, müssen wir es wieder freilegen und es so verstehen lernen, wie Jesus uns das vorgestellt hat. Der Jesus-Hirt ist keiner, der Macht im weltlich-kirchlichen Sinne hat; er ist kein Arbeitgeber, kein Dienstherr, kein Letztverantwortlicher! Hören wir auf, diejenigen Hirten zu nennen, die den Ton angeben und Macht ausüben.
- Auf ostkirchlichen Ikonen, die das Motiv des Guten Hirten zeigen, trägt Jesus nicht nur ein Schaf auf Seinen Schultern, sondern Er trägt auch die Wundmale: ER ist der Verwundete, ER ist der, der um das Leiden weiß. ER trägt, weil Seine Leidenschaft der Mensch ist, für den Er sich verwunden lässt, um ihm nahe zu sein.
Das ist der Hirte, der uns heute in der Liturgie vorgestellt wird. Das ist der Hirte, der uns einlädt, Ihm nachzufolgen, Seine Blickrichtung einzunehmen. Jetzt, in der Corona-Krise, ist dieser Blick sicher auf die gerichtet, die um das Leben ihrer Lieben bangen, die Angst haben, die verunsichert sind, die ihre Existenz gefährdet sehen, und weniger auf eine Kirche, die um ihr bisheriges Veranstaltungsleben bangt!
Gottesdienst findet statt – in dieser Zeit allerdings anders, als in der gewohnten Weise. Oder in den Worten von Mutter Teresa: „In der heiligen Kommunion haben wir Christus in der Gestalt von Brot, in unserer Arbeit finden wir ihn in der Gestalt von Fleisch und Blut. Es ist derselbe Christus.“
Ja, in dieser Zeit müssen wir uns als Christen an eine andere, eine für manche neue Form des Gottesdienstes gewöhnen: An den Dienst an denen, die Jesus Seine Brüder und Schwestern nennt – und die das nicht wissen! Dafür braucht ER uns! Dazu lädt Er uns ein. Und das einzige Werkzeug, mit dem wir uns ausstatten lassen können, ist unser Mitgefühl. Damit folgen wir Ihm nach, dem Guten Hirten.
In diesen Tagen fand ich ein berührendes Bild: Christus in der Gestalt des Arztes, der einen Corona-Patienten in den Armen trägt, der in Landesfarben vieler Länder gehüllt ist. Es spricht für sich – und es will mich ansprechen…
Amen.
