Denk an den ganzen Weg
Liebe Schwestern und Brüder,
was für ein Jahr geht da zu Ende?! Vor einem Jahr sprach ich an dieser Stelle über „Vorsätze“, die sich viele um die Jahreswende geben und machte den Vorschlag, doch einmal Psalm 23 – „der Herr ist mein Hirte“ – zu wählen und in diesem Vertrauen in das neue Jahr zu gehen. Wurde unser Vertrauen enttäuscht?
- Was zu Beginn des Jahres bald kam, hätte wohl kaum jemand geahnt: eine ungeahnte Katastrophe, eine verordnete Zwangspause und ungewollte Auszeit; ja, eine riesige Herausforderung und für nicht wenige eine totale Verunsicherung, ja Erschütterung. Was dann nötig und auch möglich wurde, war und ist ein ungeheurer Kraftakt von Betroffenen und Beteiligten. Wir stehen am Ende eines Jahres voller Absagen und Stornierungen, einer Masse von Ausfällen und Verschiebungen, auch von Ohnmacht und erzwungenem Umplanen und Umdenken.
Können wir da ruhig sagen: Der Herr, unser Hirt, hat uns gut geführt? Ist dieses Reden wieder einmal das, für was es viele halten: typisch fromm, kirchlich – eben nichtssagend?!
- Wir hörten eben die Lesung aus dem Buch Deuteronomium. Dieses Buch ist mehr oder weniger als große Abschiedsrede des Mose komponiert: 40 lange Jahre lang führte er das Gottesvolk durch die Wüste und dann stand es schließlich davor, in das verheißene Land einzuziehen – ein Land, das Mose selbst nie betreten durfte. Sein Abschied ist sozusagen sein Testament und er teilt dem Volk das mit, was ihm selbst wichtig geworden ist. Mit einem Gedächtnis, das lange zurückreicht, fasst er die Geschichte des Volkes zusammen und meinte: „Du sollst an den ganzen Weg denken!“ (Dtn 8,2) – an all das, was dir geschehen ist. Dazu gehört Gutes und Schlechtes, dazu gehören Herausforderungen und Chancen – und hinter all dem verbirgt sich, so Mose, die Treue Gottes! Gott, der den Menschen frei erschaffen hat, wollte sehen, ob der Mensch, den Er sich als Bündnispartner gewählt hat, gerade auch dann vertraut, wenn das Brot knapp wird, wenn Herausforderungen ängstigen, wenn Armut droht. Von „erziehen“ spricht Mose und er weiß damit, dass Gott immer und überall da ist, um Seinem Volk den Weg zu zeigen, der letztlich gut für es ist. Diese Jahre in der Wüste waren für das Volk entscheidend und noch viele Jahrhunderte später werden Propheten daran erinnern als eine Zeit der besonderen Nähe und Unmittelbarkeit Gottes.
- Wenn wir die Nachrichten und Kommentare der letzten Tage hören und lesen kann der Eindruck entstehen, wir stünden nun vor einem solchen Ereignis wie dem „Einzug in das verheißene Land“: Es wird noch Zeit brauchen, bis alle, die es wollen, geimpft sein werden, aber dann wird alles besser. Endlich. Wir werden alle aufatmen, wenn es so weit sein wird. Aber auch wenn ich die Aussage unseres Gesundheitsministers verstehen kann, dass der Impfstoff der Schlüssel sei, um unser Leben zurückbekommen zu können, möchte ich als Christ an dieser Stelle fragen: War das nicht unser Leben, das wir in den letzten Monaten lebten? Ungewohnt, ungewollt – ja. Aber es war unser Leben! Haben wir in diesem Jahr nichts gelernt? Haben wir uns nicht alle irgendwie verändert und gehört diese Veränderung nicht zu unserem Leben?
Ich möchte es noch etwas mehr auf die Spitze treiben: Hat uns unser „gute Hirt“ im letzten Jahr nicht Dinge gezeigt, die unser Leben auch zum Guten veränderten?
- Ich denke an die allgemeine Wertschätzung für Menschen und Berufe, die bisher eher im Schatten standen und deren Bedeutung wir neu entdeckt haben: Pflegepersonal, Ärzte, Menschen im Einzelhandel und Mitarbeiter der Supermärkte. Die Arbeit der Lehrer und Erzieher und die Bedeutung von Schule.
- Wir haben entdeckt, dass wir auch umweltschonender Ferien machen können, ein Zusammensein mit wenigen Menschen nicht unbedingt von Nachteil ist und wie wichtig gute Freunde sind.
- Ganz besonders bedeutsam wurde das Gut des Lebens. Für mich wurde neu deutlich: es ist ein Geschenk. Der Tod wurde in unserer Gesellschaft völlig unerwartet ins Bewusstsein gerückt und schreckte viele auf. Was ist nun mit meiner, mit unserer christlichen Hoffnung? Mit dem Versprechen Gottes, dass das Beste noch auf uns wartet, nämlich das Leben in Seiner Gegenwart?
Am Ende des Jahres bedenke ich den zurückgelegten Weg – und vertraue meinem Hirten. Und ich weiß: mein Leben hier wird so lange währen so lange meine Sendung dauert, die Er mir gegeben hat. Wenn mich etwas ängstigt dann der Gedanke, den Blick auf Ihn zu verlieren und damit der Angst Raum zu geben.
Wenn wir immer den ganzen Weg bedenken, wird das nicht geschehen. Und: Wir dürfen nicht einfach zum Gewohnten zurück. Dieses Jahr hat uns verändert!
Amen.