Das eigene Kreuz tragen - oder: Worte der Befreiung


Liebe Schwestern und Brüder,
stellen wir uns einmal vor: Ich weiß vom Evangelium nichts; vom Hörensagen ist mir irgendetwas von einem gekreuzigten Mann bekannt, der im Zentrum dieser Religion steht, und dann höre ich erstmals etwas aus den Heiligen Schriften, die Evangelien genannt werden. Was ich höre ist der heutige Abschnitt aus Matthäus 10, also: Seiner nicht würdig sein; Vater und Mutter, eigenes Kind weniger lieben; das eigene Leben verlieren, sein Kreuz tragen.
Wie würde ich darauf reagieren?
Nun ist es ja so, dass wir diesen Text nicht mehr das erste Mal hören. Er hat bei vielen von uns eine Geschichte, meist keine rühmliche. Es ist ein Text, der uns – und frühere Generationen waren da womöglich empfänglicher als heutige – vermittelt: du bist nicht würdig! Du schaffst es nicht!
Können wir unter solchen Vorzeichen für die Kirche werben?
- In den Medien wurde in diesen Tagen auf den Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann aufmerksam gemacht, der seinen 80. Geburtstag feierte. Bis heute gilt sein Ringen einem Christentum, das den Menschen befreit, und damit einem Jesus, der zutiefst mitfühlend ist. Immer wieder lädt Drewermann dazu ein, das Evangelium „anders“ zu lesen, oder besser: nicht mit der Brille, als ob uns der Glaube die Lebensfreude rauben und Jesus das Rückgrat brechen wollten.
Das gilt gerade im Blick auf den heutigen Text. Jesus mehr lieben als die eigene Familie – was wurde mir selbst da alles im Priesterseminar gepredigt, um uns für die Priesterweihe „waffenfähiger“ zu machen!? Das eigene Kreuz tragen – Verzicht auf deine eigene Meinung; verleugne deine Neigung, überwinde deinen Egoismus, sei demütig; nimm klaglos an, was dich niederdrückt, ja umarme dieses Kreuz, es ist dir von Gott geschickt … wer so etwas nicht kennt, nie gehört hat, mag aufatmen. Er hat wirklich Glück gehabt! Allen anderen sei gesagt – und hier lag und liegt das Anliegen Drewermanns – dass die Frohe Botschaft doch gerade deshalb eine frohe ist, weil es Gottes Anliegen ist, dass der Mensch sein Glück findet! Gott möchte gepriesen werden im Lobgesang der Freude. Gott als quälend zu beschreiben, als mich verknechtend, ist doch zutiefst gottlos! Jesus ist doch, so sagt ER von sich selbst, der Gute Hirte, dessen Joch sanft ist. Aber: Warum hören wir dann heute von Leid und Kreuztragen?
- Dies „befreiend“ zu lesen, wie Drewermann das vorschlägt, tut mir selbst so gut, dass ich es Ihnen hier gerne weitergebe.
Er spricht davon, dass das Leid zu mir gehört. Ganz einfach: meine Begrenztheit! Ich bin so, wie ich bin. Ich wäre in manchem gerne anders, besser – und ich bin es nicht. Schlimm wird es dann, wenn ich beginne, mich dafür zu schämen: Mich dafür zu schämen, was und wer ich bin! (Ich meine jetzt nicht das Schämen für offensichtliches Versagen, Gemeinheiten und Fehlverhalten!) Ich habe Angst, unter den kritischen Augen der anderen nicht akzeptiert zu sein. Das kann nicht gesund sein!
„Nimm dein Kreuz!“, nimm deine Begrenztheit, dich, so, wie du bist. So braucht Jesus mich! So lädt ER mich ein, Ihm nachzufolgen. Wenn man es uns so übersetzt, ist das doch Frohe Botschaft. Zu der Gemeinschaft, die Jesus um sich versammelt, will ich doch dazugehören!
- Und so ist auch das Wort von der Liebe zu Vater, Mutter und Kindern zu verstehen: Ich bin mehr, als das, was sie in mir sehen. Gegenüber den Eltern gilt, dass ich lernen muss, mein Leben auch mit eigenen Augen zu betrachten, die Werte zu hinterfragen, die ich erst einmal fraglos übernommen habe, die mir so selbstverständlich beigebracht wurden. Für Christus bin ich mehr, als das, was andere, selbst die mir liebsten Menschen, in mir sehen! Darum geht es. Um diese Freiheit!
Ja, wenn ich das Evangelium lese – sei es das erste Mal, sei es zum wiederholten Male – braucht es einen Schlüssel, der mir zu verstehen hilft. Dieser Schlüssel ist Jesus. Der Freund. Der Weggefährte. Er, der mein Glück will. Hier und jetzt – nicht erst irgendwann einmal.
Helfen wir uns gegenseitig, das Evangelium so vielleicht auch ganz neu zu lesen.
Und dann: Zeugen zu sein und immer mehr zu werden. Amen.
Fürbitten
Unseren Herrn Jesus Christus, der uns zum Leben ruft, bitten wir:
- Wir bitten Dich für Deine Kirche, dass sie den Menschen Deine Botschaft so verkündet, dass sie Dir mehr vertrauen können und es wagen, ihr Leben auf Dich hin auszurichten.
Christus, höre uns – Christus, erhöre uns
- Wir bitten Dich für unsere Jugendlichen und Heranwachsenden: Mache uns zu aufmerksamen Wegbegleitern auf deren Suche nach dem Sinn ihres Lebens und überzeugenden Vorbildern.
- In dieser Zeit der weltweiten Verunsicherung und Belastung durch die Corona-Krise bitten wir für die Menschen, die durch das Virus infiziert und erkrankt sind: lass sie Deine tragende Gegenwart in ihrer Not erfahren.
- Wir bitten Dich auch für diejenigen, die in diesen Wochen Erholung suchen: Lass sie ihren Mitmenschen, sich selbst und auch Dir neu nahekommen und lass sie sicher wieder nach Hause zurückkommen.
- Wir bitten dich für unsere Verstorbenen: Lass sie bei Dir das Leben finden, das Du den Deinen versprochen hast.
Dir, dem Vater, sei Dank, der Du mit dem Sohn und dem Heiligen Geist lebst und herrschst in alle Ewigkeit. Amen.
