Am Weinstock bleiben – oder: was bedeutet Leben?


- Am Weinstock bleiben – oder: was bedeutet Leben?
Predigt von Pfr. Dr. Robert Nandkisore zum 5. Sonntag der Osterzeit 2021 zu Johannes 15, 1–8 zum Download
Die Texte des 5. Sonntag der Osterzeit wie der Lesungen (Apg 9, 26–31 und 1 Joh 3, 18–24) und des Evangeliums (Joh 15, 1–8) finden Sie online im Schott der Erzabtei Beuron oder auch bei Evangelium in Leichter Sprache.
Liebe Schwestern und Brüder,
Weinberge umgeben uns hier und wir sehen an ihnen auch den Lauf der Jahreszeiten. Und die Arbeit der Menschen darin: Wie im Frühjahr an den Weinstöcken Triebe abgeschnitten werden, damit mehr Kraft in die verbleibenden Reben fließt. Eine Rebe, die abgeschnitten wird – davon ist auch im Evangelium die Rede: Jesus als Weinstock, der Vater als Winzer und wir als die Reben. Rebschnitt: zu welchem Teil gehöre ich? Zu denen, die dranbleiben dürfen am Weinstock, weil sie Frucht bringen und noch mehr Frucht bringen sollen, oder zu denen, die dem Schnitt zum Opfer fallen – nicht aus Willkür, sondern weil ich zu wenig Frucht bringe?
Wenn wir so auf das Evangelium schauen, bleibt wenig von „froher“ Botschaft! In antrainierter christlicher Bescheidenheit müsste jeder von uns sagen: „Genug Frucht bringe ich nicht, ich bleibe hinter meinen Möglichkeiten zurück – und deswegen falle ich wohl dem Rebschnitt zum Opfer!“ Was bleibt ist die Hoffnung!
- Ja, wenn wir aus dem ganzen Evangelium nur diese Verse kennen würden, dann bliebe uns kaum etwas anders übrig, als sie so zu verstehen! Aber wir kennen doch das ganze Evangelium: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10), sagt Jesus von sich selbst. Das Leben kommt von Gott, ER ist das Leben. Von Ihm her kommt es uns zu. Wenn wir das vergessen, müssen wir das Evangelium immer wieder falsch verstehen!
- In diesen für uns bedrängenden Monaten geht es um das Leben. Leben ist in Gefahr, Leben soll geschützt werden, die Angst um das Leben greift um sich. Dabei steht – das erste Mal seit vielen Jahrzehnten – in unserer Gesellschaft als Ganzer die Angst vor dem Tod wieder greifbar im Raum! Allen wird plötzlich bewusst: Es gibt gar kein einklagbares Recht darauf, unbeschadet ein hohes Alter zu erreichen, überhaupt alt zu werden. Unser Leben: was macht es aus, macht es wertvoll? Als vor zwei Wochen an einem nationalen Gedenktag der Corona-Toten gedacht wurde, zeigte sich das wirklich schreckliche Gesicht der Pandemie: dass Menschen alleine sterben müssen! Dass Angehörige nicht zu ihnen dürfen, ja dass ihnen selbst der Abschied nach dem Tod verwehrt wurde. Leben – ist Beziehung!
Gerade dann, wenn wir Menschen im Leid besonders nahe sein möchten, wenn wir als Leidende ihre Nähe besonders brauchen und auf sie angewiesen sind, ausgerechnet dann sind wir allein! Ich vergesse nie den verzweifelten Schrei einer Frau bei der Beerdigung ihres Mannes zu Beginn der Pandemie: Er starb nicht an Corona und war auch nicht an ihr erkrankt, aber sie durfte ihn 10 Tage im Krankenhaus nicht besuchen – und dann war er tot!
Die Pandemie macht deutlich, wie sehr wir einander bedürfen, einander brauchen; wie sehr das, was für uns Leben ist, auch von anderen abhängt.
- „Bleibt in mir“, sagt Jesus heute. Gerade das, wovor wir so große Angst haben, nämlich getrennt zu sein, möchte ER mit dieser Einladung vertreiben: „Bleibt, bleibt an mir dran! Ich lasse euch nicht los!“ Vielleicht entdecken wir genau das neu in den Zeiten der Pandemie: Leben ist in Beziehung sein, das macht Leben sinnvoll, fruchtbar, reich – unabhängig von der Dauer des irdischen Lebens.
Das Evangelium ist so gesehen eine Einladung – und keine Drohung! Bleibt, bleibt an mir, bleibt in mir – dann werdet ihr ein Leben erfahren, das euch trägt, gerade in schweren und belastenden Zeiten.
Allerdings: es reicht nicht, dass ich – oder ein anderer – dies in einer Predigt sage. Es braucht konkrete Menschen, die das immer wieder bezeugen, die darüber sprechen, die es erzählen. Es gibt Menschen unter uns, die es erfahren und sich von diesem „In-Jesus-Bleiben“ getragen wissen. Es ist jetzt aber nötig, dass wir darüber auch sprechen. Für mich ist das ein Zeichen der Zeit, dass es Zeuginnen und Zeugen braucht, die über ihre Erfahrungen mit Gott sprechen. Uns wurde immerzu eingebläut – und auch das ist eine Ideologie! – dass Religion Privatsache sei; dass über religiöse Erfahrungen nicht gesprochen wird. Das stimmt nicht. Sie hat soziale Auswirkungen. Ganz enorm. Da geht es ums Leben!
Amen.
Unseren Herrn Jesus Christus, der uns einlädt, bei IHM zu bleiben, bitten wir:
- Schenke uns Christen neu den Mut, über unseren Glauben und die Freude an Deiner Nähe zu sprechen und so anderen Zeichen der Hoffnung zu sein.
(Christus, höre uns – Christus, erhöre uns) - Wir bringen Dir ach die, die die Angst vor der Pandemie im Griff hat und durch sie gelähmt werden. Lass sie wagen, neu ihr Vertrauen in Dich zu setzen.
- Wir bitten Dich für diejenigen, die in der Welt Verantwortung in Politik und Wirtschaft übertragen bekommen haben. Hilf ihnen, ihre Macht zum Wohle aller einzusetzen und lohne ihnen ihr Mühen.
- Wir bitten Dich in diesen Tagen besonders für die Menschen in Indien und in unserer Partnerdiözese Nellore: Schenke den Verzweifelten Hoffnung, den Kranken Beistand, den Angehörigen der Verstorbenen Hoffnung und verhilf den internationalen Hilfsbemühungen zum Erfolg.
- Lass unsere Verstorbenen erfahren, dass Du derjenige bist, der bleibendes Leben schenkt.
Durch Dich loben wir den Vater, der mir Dir und dem Heiligen Geist lebst und herrscht in alle Ewigkeit.
Amen.
