Der Unglaube des Thomas - oder: Die Glaubwürdigkeit von Wunden


Liebe Schwestern und Brüder,
man muss weit reisen, um das Grab des Apostels Thomas zu besuchen: Es befindet sich in der Kathedrale des südindischen Chennai (früher Madras) und ist für das Christentum Indiens von großer Bedeutung, führen sich doch die Thomas-Christen der syro-malabarischen Kirche auf ihn und damit auf das 1. Jahrhundert zurück.
Thomas gilt in der Tradition als der „Ungläubige“, da er den begeisternden Erzählungen der anderen Apostel von der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn nicht glauben konnte oder wollte. Das abschließende Wort Jesu „selig sind, die nicht sehen und ich glauben“ wurde dann so gedeutet, dass der wahre Glaube auch ohne Beweise auskommen müsste.
Doch: steht das in dem Text? Oder anders: worum geht es genau?
- Thomas wird genau wie die anderen Jünger erschüttert gewesen sein, als Jesus zur Kreuzigung geführt wurde. Er zog sich zurück, war nicht bei den anderen, trauerte wohl alleine. Dann, in den Kreis zurückgekehrt, hört er diese eigenartige Botschaft, die nicht vom Überleben, sondern von der Auferstehung spricht. Seine Reaktion ist nicht einfach „Ich glaube das nicht“, sondern: „Ich will die Wunden sehen!“
Die Wunden sind das Entscheidende! Warum?
Für Thomas ist es offensichtlich eine entscheidende Frage, ob ein Überleben oder Weiterleben mit solchen Wunden denkbar ist. Ein Jesus, ein Gottessohn, der wunderbarerweise aus dem Tod errettet worden und dessen Wunden verschwunden wären, könnte kein Hoffnungszeichen für andere sein. Nein, dass man mit Wunden leben und überleben kann – das ist das Entscheidende! Daran zeigt sich, ob diese Botschaft außer für Jesus selbst eine Bedeutung hat! Wäre ER völlig unversehrt aus dem Tod zurückgekehrt, so wäre das keine Heilsbotschaft für andere, für uns!
Die Wunden zeichnen Jesus nach der Auferstehung, aber sie können Ihm nichts mehr anhaben. Das ist die Frohe Botschaft! Thomas hat instinktiv gespürt, dass ein Überleben oder neues Leben nicht wirklich „Leben“ genannt werden kann, wenn alles Negative, Bedrohliche, Leidvolle und Schmerzhafte des Vorherigen einfach abgestreift werden würde. Das würde das Leid nicht ernst nehmen – es würde den Menschen nicht ernst nehmen. Daher die Forderung des Thomas: Ich muss Seine Wunden sehen!
- Für mich war die Erfahrung prägend, die ich vor 10 Jahren durch den Kontakt mit der Gemeinschaft „Cenacolo“ machen durfte, von der ich bereits zweimal bei meinen Videobotschaften erzählte: die jungen Menschen dort sind für mich „Auferstandene“! So nennt sich auch die Gemeinschaft der Ordensschwestern, die aus dieser Gemeinschaft heraus gegründet wurden. Diese Menschen tragen die Wunden ihres früheren Lebens an sich, manchmal auch physisch sichtbar. Aber sie strahlen, sie bezeugen eine unglaubliche Lebensfreude, die sie durch den Glauben geschenkt bekamen. Die Wunden von früher bluten nicht mehr – aber sie sind da! Sie sind Teil ihres Lebens und das macht ihr Leben jetzt auch so glaubwürdig. Durch sie und in ihrer Gemeinschaft, in der ich vor 4 Jahren einige Monate verbringen durfte, fand ich auch den Mut, meine eigenen Wunden anzuschauen, sie erst einmal wahrzunehmen … manche führten ein Eigenleben! Heute weiß ich, dass sie zu mir gehören. Ich kann – wie wir es im Deutschen so gut ausdrücken können – sagen: Es war (damals) nicht gut, aber es ist im Rückblick gut gewesen, denn so wurde ich der, der ich heute bin!
- Ja, es ist durchaus eine weite Reise, die der machen muss, der dem Apostel Thomas begegnen, der ihn in seinem Anliegen verstehen will. Denn er muss sich zwangsläufig mit der Wahrheit der eigenen Verwundungen auseinandersetzen, mit ihrer Geschichte und den Tränen, die sie mit sich brachten. Nur so, nur dann wird es möglich sein, das neue Leben schon jetzt zu erfahren, das ER mir schenken will.
Es ist die heilende Erfahrung, dass Wunden wohl die Macht haben, mein Leben zu mindern, zu durchkreuzen. An der Hand Jesu aber wird der Tod und das Todbringende niemals siegen. Jetzt nicht – und auch nicht später.
Das ist die Frohe Botschaft, die der erfährt, der Wunden berührt. Auch wenn er sie nicht sieht.
Amen.
